Galgenberg: Thriller (German Edition)
Knöchel. Wie für eine makabere Anatomiestunde.
Clare trat an einen nahen Tisch und legte die Hand auf einen winzigen Schädel. Er schmiegte sich in ihre Handfläche, berührte ihre Herzlinie und die Lebenslinie mit den drei unregelmäßigen Kerben, die laut der Wahrsagerin für die Anzahl der Kinder standen, die sie gebären würde. Der weiße Knochen passte perfekt und erwärmte sich in ihrer Hand.
»Von denen haben wir bisher zweiundzwanzig gefunden«, sagte Stone. »Schädel, meine ich. Es müssen also allein in diesem Abschnitt mindestens so viele Individuen liegen, vielleicht sogar noch mehr.«
Clare hob einen anderen Schädel hoch, der ein bisschen größer war.
»Wer das auch war, er starb unter Qualen.«
Clare hatte Raheema Patel nicht kommen gehört. Sie drehte sich um und sah sich der Anthropologin gegenüber, die auf eine zerfressene Stelle im Oberkiefer deutete.
»Sehen Sie das? Sieht aus, als hätte hier eine Infektion den Knochen zersetzt, während er gelebt hat. Vielleicht ein fauler Zahn.« Sie legte den Schädel zurück. »Wahrscheinlich hat ihn das umgebracht. Die Schmerzen waren bestimmt nicht auszuhalten.«
»Und wann ungefähr ist er gestorben?«, fragte Clare.
»Ich würde sagen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Ungefähr vor zweihundert Jahren.«
»War alles, was Sie bisher gesehen haben, so alt?«, wollte Clare wissen.
»Ja, bisher schon.«
»Wir haben die ganze Nacht durchgearbeitet«, sagte Stone. »Captain Faizal warnte uns, dass uns möglicherweise nicht viel Zeit bleibt, aber bisher war alles, was wir gefunden haben, von historischem Interesse. Wenn wir die DNA nicht analysieren und die Knochen nicht untersuchen können, um festzustellen, was diese Menschen gegessen haben, wo sie geboren wurden und wie lange sie gelebt haben, dann werden wir nie etwas über sie erfahren. Weder, wer sie zu Lebzeiten waren, noch, warum sie starben.«
Die Türen sprangen auf.
»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte Stone.
Waleed Williams stand im Gegenlicht, hinter ihm hatten drei Männer Posten bezogen, zwei zu seiner Rechten, einer zu seiner Linken. Gefängnisgestählte Nacken drückten gegen Hemden und Krawatten. Einer lockerte den Kragen. Ihm fehlte ein Zeigefinger, dafür trug er an allen anderen Fingern Ringe. Er ließ die Metallstange in seiner linken Hand kreisen.
In einer einzigen flüssigen Bewegung hatte Pedro da Silva die Kamera geschultert. Seine straffen Schultern, die hervorstehenden Adern in seinen Armen und Händen um die Kamera strahlten Anspannung aus – und machten Clare wieder bewusst, was sie in Afghanistan und Liberia und im Kongo so an ihm geliebt hatte. Seine absolute Konzentration. Die Furchtlosigkeit. Die kompromisslose Suche nach der besten Aufnahme, wenn wieder einmal rohe Gewalt die Oberfläche des Alltags durchbrach.
»Mr Williams, diese Arbeiten werden weitergeführt«, sagte Clare. »Ganz gleich, wie viele Schläger Sie mitbringen.«
»Ich glaube, Sie wissen nicht, mit wem Sie sich da anlegen, Mädchen.«
»Das weiß ich wohl«, widersprach Clare. »Ich glaube, das wissen wir alle.«
Williams hob die linke Hand.
Als sein Mann vortrat, spiegelte sich die Sonne in der Eisenstange.
»Diese Knochen da – die gehören uns.« Aus seiner Stimme sprach eine leise Drohung. »Diese Archäologen, diese Wissenschaftler misshandeln unsere Toten. Und Sie da«, er deutete mit seiner Waffe auf Pedro, »Sie da sollten lieber die Kamera ausschalten.«
»Sie vergessen eines.« Clare trat vor. »Diese Baustelle ist ein Tatort. Hier wurde eine junge Frau ermordet.«
Der Mann wandte sich an Clare. »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Scheiß.«
»Sie und Ihre Leute wollen doch nichts als Lügen verbreiten.« Ein zweiter Mann drängte sich nach vorn. »Wegen ou Eva unternimmt die Polizei nichts, aber Sie und diese Wissenschaftler und die Polizei verschieben unsere Leute einfach von hier nach dort. Nicht einmal, wenn wir tot sind, finden wir Frieden.«
Mehr Menschen drängten durch die Tür.
»Wir werden dafür sorgen, dass dieser omkrap mit den Gebeinen unserer Toten aufhört.« Das kam von dem Mann mit der Eisenstange. Er wechselte sie von einer Hand zur anderen, um seinen Worten Nachdruck zu geben.
» Fok jou.« Ein Zwischenruf von hinten.
»Ich glaube nicht, dass wir hier mit Argumenten weiterkommen, Tim«, murmelte Clare. »Wir brauchen Unterstützung.«
»Sie bringen sie in ihr Labor«, rief eine Frau mit rotem Kopftuch. »Sie machen Experimente mit
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