Galgenberg: Thriller (German Edition)
»Das hier anständig und pünktlich zu Ende zu bringen ist wichtiger als diese andere Sache.«
»Diese andere Sache ist eine ermordete Frau, Pedro. Und ihr Tod ist von diesem Film nicht zu trennen.«
»Dein Beruf ist das Filmemachen, Clare«, mahnte er. »Du musst das eine vom anderen getrennt halten.«
»Ich bin mir nicht sicher, dass sie zu trennen sind«, antwortete Clare leise. »Ich muss beides im Blick behalten.«
»Man kann den Blick immer nur auf eine Sache richten«, widersprach Pedro. »Das weißt du genau.«
»Sie lässt mich nicht los, diese Tote.« Clare schlang ein Kabel um ihr Handgelenk. »Ich sehe eine Frau vor mir, die abends ausging und fest vorhatte, wieder nach Hause zu kommen, ihrem Kind einen Kuss zu geben, in ein Nachthemd zu schlüpfen und sich ins Bett zu legen.«
Sie klappte eine Kiste zu und packte die nächste voll. Die Berge an Ausrüstung, die für Filmaufnahmen gebraucht wurden.
Clare lehnte ab, als Pedro ihr anbot, sie zu ihrem Wagen zu bringen.
»Das geht schon«, versicherte sie ihm. »Ich kenne mich hier aus.«
Der Carreg Crescent lag verlassen im Dunkeln, als Clare ihren Wagen abstellte. Lilith öffnete ihr die Haustür.
»Clare, Sie sehen aus, als könnten Sie was zu trinken brauchen.« Lilith zog sie ins Haus.
»Gut erkannt. Jetzt brauche ich einen wirklich starken Whiskey«, sagte Clare. »Wo kann ich mir die Hände waschen?«
»Oben.«
Das weiße Bad war nackt bis auf ein Gemälde an der Wand. Suzanne le Roux’ Signatur in der Ecke. Das liebevolle Gemälde eines schlafenden Kindes mit einem Teddybär in den Armen. Bestimmt war das Lilith. Clare trocknete sich die Hände ab, betupfte sich mit Parfüm und ging nach unten in die Küche. Lilith hatte eine Flasche mit kaltem Wasser auf den Tisch gestellt. Brot, Käse, Tomaten.
»Ich bin am Verhungern«, gestand Clare und machte sich ein Sandwich.
Lilith schenkte ihr einen Whiskey ein und öffnete eine auf dem Boden stehende Kiste.
»Lauter alte Schallplatten.« Sie blätterte in dem Stapel alter LPs. »Nachdem Sie mich abgesetzt haben, bin ich in den Keller gegangen. Dort steht alles noch wie vor zwanzig Jahren. Schaurig.«
Sie zog eine Platte aus der Kiste. Pearl Jam. Dann die nächsten. Joy Division. Tears for Fears. Simple Minds. »Die Musik meiner Mutter, und meine auch, jedenfalls eine Zeit lang«, erklärte Lilith. »Ich saß oft auf ihrem Schoß, den Kopf an ihrer Brust. Im einen Ohr die Musik, im anderen ihren Herzschlag.« Lilith zündete sich einen Joint an. »Möchten Sie auch?«
Clare zögerte. Der süßliche Rauch roch verlockend.
»Das wird Sie entspannen.« Lilith hielt ihr den Joint hin.
»Nur einen Zug«, sagte Clare.
»Wie wurde das Haus genutzt, nachdem Sie mit Ihrer Mutter hier gewohnt hatten?«, fragte sie ein paar Sekunden später.
»Hier war so etwas wie eine Kunstschule untergebracht«, erzählte Lilith. »Einer dieser Läden, die von irgendwelchen Wohltätigkeitsorganisationen betrieben wurden und in den Achtzigern und Neunzigern von Anti-Apartheid-Geldern überlebten, bevor sie sang- und klanglos verschwanden. Danach wurde hier alles abgeschlossen. Ich erbte das Haus, aber ich zog erst wieder ein, als ich anfing, für die Ausstellung zu arbeiten. Ich nehme an, ich habe darauf gewartet, dass sie zurückkommt, oder wenigstens ihr Geist. Bis jetzt habe ich nichts davon gemerkt. Seit ich hier bin, hatte ich nichts als Albträume. Ich schlafe nicht mehr. Ich habe so eine Art Déjà-vu. Als würde hier etwas lauern, knapp jenseits meiner Erinnerung. Wahrscheinlich geht es in meiner Ausstellung vor allem darum. ›Alles über meine Mutter‹ wäre ein besserer Titel gewesen. Darin kann ich mein verschwommenes Wissen unterbringen, nehme ich an.«
»Was wissen Sie denn über Ihre Mutter?«
»Anscheinend hat meine Mutter mit jedem geschlafen. Alle Männer, die mir erzählt haben, sie hätten sie gekannt, behaupten, sie seien mit ihr im Bett gewesen.« Lilith massierte die Narben an der Innenseite ihrer Handgelenke. »Nicht wenige haben versucht, auch mit mir zu schlafen. Aus Nostalgie, nehme ich an.« Lilith beugte sich vor. »Meine Gran hat mir erzählt, meine Mutter sei eine Hure gewesen und hätte nur das bekommen, was sie verdient hatte. Gran versuchte, sie auszulöschen, aber meine Mutter entzog sich ihr. Für mich war das allerdings nicht so einfach.«
»Wann haben Sie Ihre Großmutter das letzte Mal gesehen?«
»Den letzten Kontakt hatten wir, als ich fünfzehn war. Damals
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