Galgenberg: Thriller (German Edition)
beschäftigte ich mich viel mit meiner Mutter, mit den ganzen Gefühlen, die sie bei mir auslöste. Ich drehte völlig durch. Flippte aus, rauchte Dope, schlief mit allen Jungs in meiner Schule. Darum schickte mich Gran in dieses Heim für schwer erziehbare Mädchen. Und danach zu den Osmans.«
»Merle Osman«, sagte Clare. »Der bin ich heute Abend am Steinbruch begegnet, wo sie ihre Hunde ausführte.«
»Es sind die einzigen Wesen, die sie wirklich liebt. Abgesehen von Gilles und so einem Typen aus ihrer Vergangenheit.«
»Sie hat nie geheiratet?«
»Nein«, sagte Lilith. »Merle ist eigentlich richtig hässlich. Obwohl es nicht mehr so auffällt, seit sie älter ist und sich zu Tode pflegt.«
»Sind Sie dem Mann je begegnet?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich kann mich nur erinnern, dass sie einmal seinetwegen gestritten haben, während ich bei ihnen wohnte. Der Typ kam immer vorbei, wenn er in der Stadt war. Ich glaube, er war mit Gilles in der Armee. Sie kamen aus derselben Kleinstadt mitten im Nichts.Alle drei haben es weit gebracht. Wenn er da war, schlief er mit Merle. Wahrscheinlich war sie ihm dankbar. Das gibt dem Sex Feuer. Wer kann das bei ihr schon wissen? Vielleicht hat es ihr gut gepasst. Denn so konnte sie weiterhin so eng mit Gilles zusammen sein.«
»Sie scheinen einander sehr nahezustehen«, bemerkte Clare.
»Allein sind sie nichts, aber vereint sind sie eine nicht zu unterschätzende Macht.«
»Sie hat sich heute Abend nach Ihnen erkundigt«, verriet ihr Clare.
»Was haben Sie ihr gesagt?«
»Dass Sie zurechtkommen. Stimmt das?«
»Irgendwie schon«, erwiderte Lilith. »Auch wenn mein Kopf Karussell fährt. Bilder, Gedanken, die sich unaufhörlich jagen. Ich wünschte, das würde irgendwann aufhören.«
»Ich bin heute noch jemandem begegnet – Jacques Basson. Er besitzt ein Gemälde Ihrer Mutter.«
»Eine Trophäe. Wie sie die Killer in den Filmen behalten.« Lilith verschränkte die Arme.
Draußen rief eine Eule. Dann noch einmal.
»Schlimm, wenn man jemanden ruft und niemand antwortet«, seufzte Lilith.
»Es war ein langer Tag, ich bin erledigt«, sagte Clare.
Sie stand auf, und dabei strichen Liliths Finger über den braunen Zentimeter seidiger Haut zwischen Clares Hose und ihrem Top.
»Noch ein Whiskey?«, fragte sie.
»Nein danke, ich muss nach Hause.«
»Die Eule hat aufgehört zu rufen«, sagte Lilith. »Wissen Sie, wenn es so still wird wie jetzt, dann ist es so, als hätte die Dunkelheit einfach alles verschluckt. Als würde die Nacht den Atem anhalten. Alles ist viel zu dicht.«
Clare löste Liliths Hand.
»Das ist mir aus jener letzten Nacht im Gedächtnis geblieben.« Lilith schloss die Augen. »Aus den Stunden davor. Dass die Nacht den Atem anhielt. Immer dichter wurde. Dass ich oben an der Treppe stand und lauschte. Kein Licht in der Tiefe des Hauses. Nur das Pochen meines Herzschlags unter den Rippen. Keine Autos, keine Menschen, nicht einmal ein Hund.«
Sie öffnete die Augen und sah Clare an.
»Diese Stille liegt immer noch wie eine Schlinge um meinen Hals. Je angestrengter ich mich zu erinnern versuche, desto fester zieht sie sich zu.«
Es war kühler geworden, die Seeluft stahl sich ins Landesinnere.
»Lilith, Ihre Großmutter. Haben Sie noch Kontakt zu ihr?«
»Soweit ich weiß, wohnt sie immer noch im selben alten Haus im selben alten Dorf.«
»Ich finde, wir sollten ihr morgen einen Besuch abstatten.«
»Warum bleiben Sie dann nicht hier?« Liliths Hand kam auf Clares Wange zu liegen. »Es ist schon so spät. Und wir müssten früh aufstehen.«
»Tut mir leid, ich brauche mein eigenes Bett«, sagte Clare.
»Dann gute Nacht.«
Leicht wie Mottenschwingen landeten Liliths Finger auf Clares Mund.
Clare schloss die Haustür, atmete tief durch. Eine knorrige Bougainvillea tropfte scharlachrote Blüten auf den rissigen Beton des Gehwegs. Die Straßen waren leer. Clare ging zügig in der Straßenmitte. Nur hundert Meter, dann würde sie in ihrem Auto sitzen. Ein, zwei Minuten später, und sie wäre geborgen im tröstlichen Brummen des Abendverkehrs in Richtung Stadt.
Der Wind jagte Müllfetzen um ihre Knöchel. In der Nähe packten zwei Obdachlose ihre Habseligkeiten in ein Kanalrohr und sahen zu ihr herüber. Nicht feindselig, aber auch nicht freundlich.
Clare hatte sich gerade hinter das Steuer ihres Autos gesetzt, als ihr ein scharfer Geruch nach abgestandenem Schweiß entgegenschlug.
Aber da saß die kühle Klinge schon an ihrer Kehle,
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