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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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dass ihre Nacktheit sie gar nicht schockierte. Sie hatte bereits fest mit einem von Phillips’ Jungen gerechnet. Freilich erleichterte es sie auch ein wenig, von dem befürchteten Anblick verschont zu werden. Sie fand es nur schade, dass sie nun nichts hatte, was sie Hester als handfesten Beweis mitbringen konnte. Ein Schwur allein half vor Gericht nichts, woran sie alle unlängst schmerzhaft erinnert worden waren.
    Dann aber fiel ihr ein, dass es nicht nur eine Form von Pornografie gab und der Verkauf eines Erzeugnisses der einen Art nicht das Vorhandensein anderer ausschloss. Sie blieb abrupt stehen, als hätte sie etwas vergessen, dann drehte sie sich um und lief zurück, um nicht weit von ihrem alten Platz entfernt erneut Stellung zu beziehen. Jetzt befand sie sich auf der anderen Stra ßenseite und konnte jeden, der den Laden ihr gegenüber betrat, genau beobachten.
    Sie verfolgte tatenlos, wie mehrere gewöhnlich aussehende Kunden hineingingen und gleich darauf wieder herauskamen, aber als ein elegant gekleideter Herr im Laden verschwand, überquerte sie die Straße und folgte ihm hinein. Drinnen stellte sie sich in eine Ecke und tat so, als würde sie warten. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, sie wollte aus Diskretion Abstand wahren.
    Nachdem der Mann sich mehrere Karten hatte zeigen lassen, sich für ein paar davon entschieden und gezahlt hatte, trat Claudine vor und torkelte plötzlich, als wäre ihr schwindlig. Sie schwankte immer heftiger, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu wahren, und schlug dabei wie zufällig dem Mann die Karten aus der Hand, die alle auf den Boden flatterten. Zwei blieben mit dem Bild nach unten liegen, drei zeigten ver ängstigte, nackte Jungen in Stellungen, die – wenn überhaupt – höchstens erwachsene Männer kennen sollten, und auch das nur in einem streng privaten Rahmen. Eines von den Kindern hatte blutige Striemen an Stellen, die normalerweise jeder verhüllte.
    Claudine schloss die Augen und ließ sich theatralisch zu Boden sinken, wobei sie einen Brechreiz nicht zu simulieren brauchte. Der Ladeninhaber stürzte hinter der Theke hervor und versuchte, ihr auf die Beine zu helfen, während sein Kunde hektisch auf dem Boden herumkroch, um seine Schätze zu bergen.
    Die nächsten Augenblicke bekam Claudine nur verschwommen mit. Sie rappelte sich mühsam auf, und jetzt war ihr tatsächlich schwindlig. Auf das Drängen des Ladeninhabers trank sie einen kleinen Schluck Brandy, wahrscheinlich das Einzige, das ihr anzubieten er sich leisten konnte. Danach erklärte sie dem Händler, der Tabak ihres Mannes würde warten müssen, denn sie brauche jetzt zuallererst frische Luft. Und ohne sich weiter helfen zu lassen, dankte sie ihm und taumelte hinaus auf die dunkle Straße, wo die Feuchtigkeit stetig zunahm. Vom Fluss trieben Dunstschwaden heran und mit ihnen der verlorene Widerhall des Klangs von Nebelhörnern, die irgendwo auf der Strecke hinter dem Limehouse Reach betätigt worden waren.
    Sie lehnte sich gegen die Mauer eines Mietshauses. Ihr Magen war immer noch aufgewühlt, im Mund hatte sie den Geschmack von Galle. Sie zitterte vor Kälte, ihr Rücken schmerzte, und ihre Füße waren mit Blasen übersät. Sie war ganz allein in dieser dunklen Straße. Aber was für ein Sieg! Nie durfte sie diesen Augenblick vergessen, zumal sie so teuer dafür bezahlt hatte.
    Drei, vier Männer liefen an ihr vorbei. Zwei davon kauften ihr Streichhölzer ab, ehe sie weiter zum Tabakladen strebten. Sie würde tatsächlich genug für einen Laib Brot verdienen, sagte sie sich. Doch eigentlich hatte sie nicht den Schimmer einer Ahnung, was ein Laib kostete. Ein Pint Bier kostete drei Pence, wie sie jemanden hatte sagen hören. Vier Pints für einen Shilling. Neun Shilling pro Woche waren eine anständige Miete und machten die Hälfte des Wochenlohns eines Arbeiters aus.
    Das waren äußerst elegant gekleidete Herren, diese Kunden des Tabakhändlers. Ihre Anzüge hatten bestimmt zwei Pfund gekostet, wenn nicht noch mehr. Das Hemd des einen sah nach Seide aus. Und wie viel kosteten diese Fotografien? Sechs Pence? Einen Shilling?
    Ein weiterer Mann war vor ihr stehen geblieben. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Er war groß und massiv.
    »Ja, Sir? Streichhölzer?«, brachte sie mit ausgetrockneten Lippen hervor.
    »Zwei Schachteln.« Er hielt ihr zwei Pence entgegen.
    Sie steckte das Geld ein, und er nahm sich zwei Schachteln vom Tablett. Dann hob er den Blick zu ihrem Gesicht.

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