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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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allerdings riechen. Aber das muss er auch. So, wie Sie jetzt ausschauen, können Sie sich unmöglich auf die Straße stellen, sonst kommen die Ihnen gleich auf die Schliche! Und Sie müssen darauf achten, dass Sie den Mund halten. Ich erklär Ihnen noch, was Sie sagen müssen. Oder tun Sie am besten so, als ob Sie taub wären und nix hören würden. Und Stiefel! Ich bring Ihnen welche, die aussehen, als ob Sie darin nach Schottland und zurück gelaufen wären.«
    »Danke«, hauchte Claudine. Allmählich befielen sie Zweifel daran, ob sie wirklich den Mut hatte, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Die ganze Idee war wahnsinnig! Sie kannte sich viel zu wenig aus, um so etwas durchzuführen. Es würde in einer Erniedrigung für sie enden. Man würde ihre Verkleidung sofort durchschauen, und Wallace würde sie in ein Irrenhaus stecken. Niemand würde ihm dabei Schwierigkeiten machen. Welche andere Erklärung gab es denn schon für ein solches Verhalten?
    Ruby schüttelte ehrfürchtig den Kopf. »Sie haben wirklich Mut, Missus. Ich schätze, dass selbst Miss Hester auf Sie stolz wär’. Natürlich werd ich auch ihr nix sagen. Ich werd mich bestimmt nicht verplappern und Sie verraten!«
    Damit war die Entscheidung besiegelt. Jetzt gab es keine Ausflüchte mehr. Sie konnte unmöglich Rubys Glauben an sie und ihre glühende Verehrung erschüttern. »Danke«, hauchte Claudine ein weiteres Mal. »Sie sind eine treue und hervorragende Verbündete.«
    Ruby strahlte vor Freude. In ihrer Aufregung brachte sie kein Wort hervor.
     
    Selbstverständlich zog Claudine erst nach Einbruch der Dämmerung im Schutz der Dunkelheit los. Aber obwohl das Risiko, enttarnt zu werden, jetzt weitaus geringer war, wanderte sie mit gesenktem Kopf durch die Straßen. In den ungewohnten und extrem unbequemen Stiefeln konnte sie nur schlurfen. Sie musste schrecklich aussehen. Ihr Haar war mit Öl aus der Küche eingefettet worden, dessen schon etwas ranziger Geruch ihren Ekel erregte. Ihr Gesicht hatte Ruby sorgfältig mit Ruß beschmiert, ebenso die Hände und den Teil des Halses, der sichtbar war. Sie hatte eine alte Stola um ihre Schultern geschlungen und war froh, dass sie sie zuhalten konnte, nicht wegen der Wärme, denn es war ein milder Abend, sondern um so viel wie nur möglich von sich zu verbergen. Ihre Ausstattung vervollständigten ein leichtes Tablett, das mit einer Schnur um den Nacken gebunden war, und ein Beutel voller Streichholzschachteln, die es zu verkaufen galt. Außerdem hatte sie Sixpence in Form von Pence-und Halfpence-Münzen als Wechselgeld dabei. Ruby hatte ihr erklärt, dass mehr nur verdächtig wirken würde.
    Sie begann an der Uferstraße hinter Wapping und lief langsam weiter, bis sie zwischen einem guten Tabakwarenladen und einer Gastwirtschaft eine Ecke entdeckte, die ihr lohnend erschien. Dort bezog sie Stellung, das Tablett unterhalb der Brust gegen den Bauch gestemmt, und fühlte sich so auffällig wie eine zerquetschte Fliege an einer weißen Wand – und ungefähr genauso nützlich.
    Und sie hatte Angst. Als die Dunkelheit sich über die Stadt senkte, konnte sie nur noch die kurzen Wegabschnitte deutlich erkennen, auf die der Schein der Straßenlampen fiel, und gelegentlich Teile des Bürgersteigs, wenn sich Licht aus einem Fenster ergoss oder eine Tür plötzlich geöffnet wurde. Um sie herum herrschte ein Durcheinander von Geräuschen. Hundegebell aus der Ferne übertönte das Trappeln von Pferdehufen auf der geschäftigen Hauptstraße siebzig Meter weiter vorn. Aus unmittelbarer Nähe hatte sie die Rufe aller möglichen Leute in den Ohren, in die sich gelegentlich lautes Gelächter oder das Klappern vorbeieilender Schritte mischten.
    Sie empfand eine groteske Dankbarkeit, als ihr jemand Streichhölzer abkaufte und sogar mit ihr sprach. Allein schon die Tatsache, dass man sie bemerkt und als Menschen wahrgenommen hatte, durchbrach die Einsamkeit, die sich wie eine Glasglocke über sie gesenkt hatte. Sie lächelte den Mann an, nur um sich jäh beschämt daran zu erinnern, dass Ruby ihr die Zähne geschwärzt hatte. Sie seien schön, hatte sie gemeint, aber viel zu weiß und ebenmäßig für die Art von Frau, als die sie sich ausgeben wollte.
    Noch befremdlicher und verwirrender war, dass der Mann überhaupt nicht auf sie achtete. Er hielt sie exakt für das, was sie ihm vorgaukelte: eine Frau von der Straße, die zu alt und schlicht wirkte, um eine Hure zu sein, es aber nötig hatte, den einen oder

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