Galgenfrist für einen Mörder: Roman
anderen Shilling dazuzuverdienen, indem sie sich mitten in der Nacht allein an Straßenecken postierte, um Streichhölzer zu verkaufen, egal, ob es draußen kalt oder warm, nass oder trocken war. Einerseits erleichterte sie das, zugleich fühlte sie sich aber auch verunsichert. Machte das etwa den einzigen Unterschied aus: andere Kleider und ein bisschen Schmutz, die Art und Weise, wie sie den Kopf trug, die Frage, ob sie es wagen konnte, dem Mann in die Augen zu schauen oder nicht?
Sie konnte hier die ganze Nacht stehen bleiben, und diejenigen, die Mitleid mit ihr hatten, würden ihr sicher Zündhölzer abkaufen, aber sie würde nichts erfahren. Folglich musste sie sich vor Geschäften postieren, wo Bücher, Zeitschriften oder Tabak verkauft wurden, alles Dinge, für die sich ein Mann interessieren konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Ruby hatte ihr erklärt, wo sie diese Läden finden würde und woran sie sie erkennen konnte. Sollte sie sich vielleicht auch näher an Jericho Phillips’ Boot heranwagen? Insbesondere seinen Geschäften wollte sie ja auf die Schliche kommen. Vielleicht war es mit seinem wie mit den meisten Gewerben: Jeder hatte sein eigenes Gebiet; man wilderte nicht in anderen. Wie auch immer, inzwischen wurden ihre Glieder steif, und sie begann zu frieren, ohne damit mehr zu gewinnen als ein wenig Erfahrung.
So näherte sie sich wieder dem Fluss und dem etwa eine halbe Meile langen Uferbereich südlich des berüchtigten Execution Dock, wo man mehrere Jahrhunderte lang Piraten gehängt hatte. Hier war eine der Stellen, wo Phillips’ Boot bekanntermaßen vor Anker gelegen hatte. Ein anderer Anlegeplatz befand sich weiter südlich vor dem Limehouse Reach und ein weiterer in der Flussbiegung gegenüber den Bugsby Marshes, wo sich die Halbinsel Isle of Dogs an den Blackwell Reach schmiegte. Für reiche Männer auf der Suche nach Vergnügungen war diese Stelle zu abgelegen und darum gewiss nicht für den Verkauf von Büchern und Fotografien geeignet. War das wirklich eine gute Idee von ihr? Oder war sie einfach zu dumm, um zu merken, wie dumm sie war? Wallace hätte Letzteres gesagt, wenn es ihm nicht vor Wut die Sprache verschlagen hätte. Sollte er damit tatsächlich recht haben, würde sie das nicht ertragen. Für sie wäre das fast genauso schlimm, wie Ruby zu enttäuschen.
Sie marschierte weiter. Es war spät und inzwischen völlig dunkel. Wie lange blieben die Geschäfte offen? Pornografische Bilder von kleinen Jungen zu kaufen war doch sicher keine Beschäftigung für den helllichten Tag. Blieben die Läden in dieser Jahreszeit womöglich die ganze Nacht geöffnet? Suchten die Interessenten die entsprechenden Orte vielleicht nach dem Theater auf? Leute, die von Jericho Phillips’ Boot kamen, würden doch sicher die einschlägigen Läden heimsuchen.
Auf jeden Fall war dies ihre beste Chance, es in den Gassen zu versuchen, die vom Flussufer ins Innere des Viertels führten.
Doch bis nach Mitternacht schritt sie erfolglos vor den Geschäften hin und her. Frierend und entmutigt kehrte sie schließlich zur Klinik zurück, wo Ruby sie einließ. Kaum im Warmen, verstieg sie sich zu der verwegenen Prahlerei, dass sie sich keineswegs geschlagen geben und garantiert am nächsten Abend in die Gassen zurückkehren würde. Dann zog sie sich in eines der freien Zimmer zurück, die für Patientinnen mit ansteckenden Krankheiten bereitgehalten wurden, und schlief, bis sie am nächsten Morgen von Schritten vor der Tür und dem unterdrückten Fluch eines der Dienstmädchen geweckt wurde.
Claudine konnte sich nicht davor drücken, den ganzen nächsten Abend in den Gassen herumzustehen, es sei denn, sie wollte Rubys neue Heldenverehrung verlieren. Und zur eigenen Überraschung stellte sie fest, dass diese ihr zu wertvoll war, um überhaupt ans Aufgeben zu denken.
So kam es, dass sie auch am folgenden Abend bei böigem Wind und Nieselregen an derselben Straßenecke stand und ihr diesmal mit einem Öltuch bedecktes Tablett mit Zündhölzern zur Schau stellte. Bald spazierten zwei gut gekleidete Herren an ihr vorbei, nahmen sie aber anscheinend nicht wahr.
Claudine wandte sich um, als wollte sie die Straße überqueren oder ihnen sogar nachlaufen und sie anflehen, ihr doch eine Schachtel abzukaufen. Doch das tat sie nicht.Vielmehr überholte sie sie und warf einen flüchtigen Blick auf eine Fotografie, die einer von den beiden betrachtete. Ihre Enttäuschung, nur eine erwachsene Frau zu sehen, war so gewaltig,
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