Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Gleichgewicht wahren.
Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Weder wusste sie, wie lange sie schon lief, noch wo sie war. Schließlich sank sie erschöpft vor der Tür eines Wohnhauses nieder. Es ragte in irgendeiner engen Gasse auf, wo sich die Dächer der Gebäude beinahe berührten. Sie hörte ein Rascheln, das Kratzen der Krallen von irgendwelchen Tieren, Atemgeräusche, aber kein Poltern mehr von Stiefeln auf dem Straßenpflaster, keine Stimmen, kein Lachen.
Jemand hockte neben ihr, eine Frau, die wirkte wie ein Stapel zerlumpter Wäsche, verschnürt mit einem Faden. Froh über die Wärme kroch sie näher zu ihr. Am nächsten Morgen wollte sie in Erfahrung bringen, wo sie war. Fürs Erste war sie unsichtbar in der Dunkelheit, ein weiteres Lumpenbündel, eines von vielen.
Als Hester am Morgen in der Klinik eintraf, wartete Squeaky Robinson bereits auf sie. Kaum hatte sie sich an ihr Pult gesetzt, um die Kosten der Medikamente zu überprüfen, als er auch schon bei ihr anklopfte und hereinstürmte, ohne ihre Antwort abzuwarten. Er wirkte zornig und beunruhigt. In der Hand hielt er einen steifen weißen Bogen Papier. Ohne die geringste Begrüßung oder Vorrede legte er sofort los.
»Zwei Tage!«, bellte er. »Kein Lebenszeichen, nicht ein Wort! Und jetzt kriegen wir Briefe von ihrem Mann, der ihr befiehlt, sofort nach Hause zu kommen!« Zum Beweis wedelte er mit dem Blatt.
»Wer?«, fragte Hester perplex. Auf seine Manieren sprach sie ihn nicht an. Dass er unter Druck war, hatte sie auf den ersten Blick erkannt.
»Ihr Mann!«, blaffte er. Er warf einen Blick auf die Zeitungen. »Wallace Burroughs.«
Hester begriff und war mit einem Mal genauso besorgt wie er. »Sie meinen, Claudine war seit zwei Tagen nicht mehr hier? Und zu Hause gewesen ist sie auch nicht?«
Er schloss entnervt die Augen. »Das hab ich doch gerade gesagt! Sie is’ verschollen, einfach weggegangen, diese …« Er wühlte in seinem Gedächtnis nach einem Ausdruck, der wüst genug war, um seine Emotionen wiederzugeben, fand aber keinen, den er in Hesters Gegenwart verwenden konnte.
»Kann ich das sehen?« Hester streckte die Hand nach der Mitteilung aus, und Squeaky reichte sie ihr. Sie war kurz, um nicht zu sagen schroff – und unmissverständlich. Mr. Burroughs ließ sie wissen, dass er Claudine verboten hatte, sich noch tiefer in die Angelegenheiten der Klinik verwickeln zu lassen, sie sich ihm aber offenbar widersetzt hatte. Zumindest war sie seit zwei Tagen und Nächten nicht mehr nach Hause und zu ihren Pflichten zurückgekehrt. Jetzt forderte er, dass derjenige, wer immer die Verantwortung für die Klinik trug, Claudine auf der Stelle heimschickte und sie in Zukunft nicht mehr wegen weiterer Hilfe in Form von Arbeitszeit oder finanziellen Mitteln belästigte.
Zu einem anderen Zeitpunkt wäre Hester angesichts seiner Arroganz und seines herrischen Gebarens der Kragen geplatzt, doch zwischen den Zeilen las sie außer verletztem Stolz auch echte Sorge heraus, und zwar nicht nur um sein eigenes Wohlergehen, sondern auch um das von Claudine.
»Das ist sehr ernst, Squeaky.« Sie blickte zu ihrem Gefährten auf. »Wenn sie nicht zu Hause, aber auch nicht hier ist, kann es sein, dass sie in Schwierigkeiten steckt.«
»Das weiß ich selbst!«, fauchte er mit ungewöhnlich lauter Stimme. »Wieso, glauben Sie, steh ich hier vor Ihnen? Sie ist losgelaufen und hat irgendwas Dummes angestellt!«
»Was könnte das sein? Was wissen Sie, Squeaky?«
»Ich weiß nix, sonst hätte ich’s Ihnen längst gesagt!« Seine Erbitterung hatte einen Grad erreicht, an dem er nicht mehr stillstehen konnte. Ständig verlagerte er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Auf mich hört ja keiner! Sie werden Bessie oder Ruby oder sonst wen fragen müssen. Oder melden Sie’s der Polizei. Reden Sie mit Mr. Monk darüber.Wir müssen sie finden, sonst passiert ihr noch was! Sie ist ja weiß Gott dumm genug.«
Hester holte tief Luft, um eine ganze Reihe von sicheren Orten herunterzurattern, wo Claudine stecken könnte, doch dann schwieg sie. Ihr war klar, dass Claudine nie alles hätte stehen und liegen lassen und zu einer größeren Fahrt für wohltätige Zwecke aufgebrochen wäre, ohne in der Klinik Bescheid zu sagen. Wie sie alle war sie wegen Jericho Phillips wütend und besorgt, sodass ihr Verschwinden durchaus mit diesem Fall zu tun haben konnte.
Sie erhob sich. »Ich werde mit Ruby und Bessie sprechen. Und wenn sie mir nichts sagen können, mache
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