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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Sie schaute ihm kurz in die Augen, eigentlich nur, um darin zu erkennen, ob er noch etwas haben wollte. Plötzlich erstarrte sie. Das Blut gefror ihr in den Adern, und aus ihrem Gesicht musste jede Farbe gewichen sein. Das war Arthur Ballinger! Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Sie war ihm bei mehreren gesellschaftlichen Anlässen begegnet, zu denen sie Wallace begleitet hatte. Sie hatte ihn so gut in Erinnerung, weil er Margaret Rathbones Vater war. Hatte er auch sie erkannt? Starrte er sie deshalb so an? Das war ja noch schlimmer als vorhin im Laden! Er würde es Wallace erzählen, keine Frage. Und sie hatte keine auch nur annähernd plausible Ausflucht parat! Aus welchem Grund sollte sich eine Dame der Gesellschaft denn als Minderbegüterte ausstaffieren und vor einem Laden Streichhölzer verkaufen, in dem man pornografische Fotos der widerwärtigsten Art erstehen konnte?
    Und das war noch nicht einmal das Schlimmste! Ballinger würde begreifen. Er würde wissen, dass sie ihn und andere Männer wie ihn ausspionierte. Sie musste irgendetwas sagen, um seinen Verdacht zu zerstreuen, damit er annahm, er müsse sich getäuscht haben und sie sei nur eine Person, die ihr vielleicht ähnelte, eine Hausiererin, irgendeine bettelarme Frau.
    »Danke, Sir«, krächzte sie in dem Versuch, die Stimmen ihrer Patientinnen in der Klinik nachzuahmen. »Gott segne Sie!« Sie verschluckte sich, weil sie beim Sprechen einatmete. Die Kehle, die ohnehin ausgetrocknet war, brannte, dass sie zu ersticken glaubte.
    Ballinger wich einen Schritt zurück, musterte sie noch einmal, überlegte es sich dann aber anders und entfernte sich mit in der Ferne verhallenden Schritten. Zwei Minuten später stand sie allein in der Straße, die jetzt so dunkel war, dass sie kaum die andere Seite sehen konnte. Die Lampen hingen von den Pfosten herab, die vage an Türme erinnerten, umrankt von blassen Dunstkränzen, die sich mit den vom Wasser herwehenden Windstößen drehten, auflösten und neu formten.
    Ein Hund trottete lautlos vorbei, seine Gestalt war nur undeutlich auszumachen. Eine Katze huschte an ihr vorüber, sprang anscheinend mühelos eine Mauer hinauf und verschwand auf der anderen Seite. Irgendwo schrien ein Mann und eine Frau einander in der Dunkelheit an.
    Dann kamen drei Männer um die Ecke. Breitbeinig torkelten sie auf sie zu. Im Schein einer Lampe konnte sie ihre Gesichter erkennen. Zwei von ihnen glotzten sie lüstern an; einer fuhr sich sogar mit der Zunge über die Lippen.
    Sie warf ihr Tablett beiseite und rannte los, ohne sich um die nicht passenden Stiefel, die unebenen Pflastersteine, die sich verdichtende Dunkelheit und die stinkenden Abfallhaufen zu kümmern. Sie schaute nicht einmal, wohin sie lief, Hauptsache, sie schüttelte ihre Verfolger ab, die ihr hinterherschrien und unter wüstem Gelächter alle möglichen obszönen Ausdrücke ausstie ßen.
    Am Ende der Straße bog sie nach links ab und lief bei der nächsten Gelegenheit um eine Ecke, hinter der keine freie Fläche lag, wo man sie hätte sehen können. Hier war es noch dunkler, aber sie wusste, dass die Kerle immer noch ihre Stiefel auf den Pflastersteinen hören würden. Erneut bog sie ab und bald noch einmal, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Ihre größte Angst war es, in einer Sackgasse zu stranden, wo ihr eine Mauer jeden Ausweg verbauen würde und sie eine sichere Beute wäre.
    Irgendwo bellte wütend ein Hund. Weiter vorn erspähte sie Lichter. Aus der offenen Tür einer Taverne ergoss sich der gelbe Schein einer Laterne auf das Kopfsteinpflaster. Es roch penetrant nach Bier. Trotzdem war sie versucht hineinzugehen. Die Schänke war hell und versprach Wärme. Vielleicht würde man ihr dort helfen.
    Aber vielleicht auch nicht.Was, wenn jemand an ihren Kleidern zerrte und die guten Stoffe darunter zum Vorschein kamen? Sie wäre als Betrügerin bloßgestellt! Die Leute dort würden sich getäuscht und verhöhnt fühlen. Am Ende brachten sie sie womöglich noch um! Sie hatte die Wunden allzu vieler Straßenmädchen gesehen, die sich den unbeherrschten Zorn irgendeines Mannes zugezogen hatten. Besser weiterlaufen. Niemandem trauen.
    Inzwischen spürte sie ein Stechen in den Lungen, doch sie wagte nicht, stehen zu bleiben.
    Schon wieder gellten Schreie in ihrem Rücken. Sie versuchte, noch schneller zu rennen. Ihre Stiefel schlitterten über das nasse Kopfsteinpflaster. Zweimal wäre sie beinahe gestürzt, und nur durch hektisches Rudern mit den Armen konnte sie das

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