Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Ich kann mir keine Arbeit vorstellen, die eine Frau mehr adelt.«
Einige Geschworene schnappten nach Luft, und ihre Gesichter hellten sich zu einem unsicheren Lächeln auf. Selbst Sullivan ließ sich zu einer bewundernden Miene bewegen. Nur Tremayne wirkte nervös, überrumpelt.
»Haben Sie dem etwas hinzuzufügen, Mr. Tremayne?«, erkundigte sich Sullivan.
Der Vertreter der Anklage hatte sich immer noch nicht erholt. »Nein, Mylord, danke.« Die Lippen noch etwas schmaler als vorher, blickte er zu Hester auf und setzte die Befragung fort. »Mrs. Monk, hatten Sie im Rahmen dieser Arbeit Gelegenheit, bedeutend mehr als die meisten von uns über das Gewerbe derer zu erfahren, die ihren Körper für die sexuelle Befriedigung anderer verkaufen?«
»Ja. Man lernt zwangsläufig immer dazu.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Um dieses Wissen zu nutzen, bat Sie auch Mr. Monk um Ihre Mithilfe bei seinem Bestreben, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie Walter Figgis lebte und auf welche Art und Weise er missbraucht und schließlich ermordet wurde?«
»Ja. Für mich war es viel leichter, das Vertrauen derer zu erwerben, die mit solchen Dingen zu tun haben. Ich kannte Leute, die bereit waren, mir zu helfen und mich zu Personen zu führen, die wahrscheinlich nie mit der Polizei gesprochen hätten.«
»Sehr richtig. Könnten Sie dem Gericht nun bitte Schritt für Schritt erklären, was Sie in Hinblick auf Walter Figgis herausfanden? Ich bedaure außerordentlich, Sie diesem abstoßenden, wenn auch unumgänglichen Thema auszusetzen, aber ich muss Sie bitten, sich detailliert zu äußern, weil die Geschworenen sonst nicht hinreichend beurteilen können, was an dem, was wir vorgebracht haben, aber bisher nicht beweisen konnten, der Wahrheit entspricht. Verstehen Sie das?«
»Ja. Natürlich.«
Danach führte Tremayne Hester behutsam und mit klaren Worten durch die Befragung, eine Sammlung von Fakten, Schlussfolgerungen und schließlich noch mehr Fragen, bis sie sämtliche Indizien zusammengestellt hatten, mit denen sich ein zentraler Abschnitt von Figs Leben nachbilden ließ: die Jahre auf dem schwimmenden Bordell nach seinem Verschwinden vom Themseufer bis hin zu seinem Tod. Jede Information hatte Hester von jemandem erhalten, den sie konkret benennen konnte, auch wenn sie es – mit Rathbones Billigung – vorzog, lediglich die Spitznamen preiszugeben, unter denen ihre Gewährsleute in den Straßen bekannt waren.
»Wenn Fig so arbeitete, wie es die Indizien nahelegen«, wollte Tremayne nach einer Weile wissen, »wieso, um alles in der Welt, hatte dann Phillips – oder irgendein anderer Bordellbetreiber – den Wunsch, seinen Leibeigenen zu verletzen, ja, zu töten? Welchen Nutzen hat er von Fig, wenn er tot ist?«
Hester wusste, dass ihr Gesicht ihren Zorn verriet, doch sie konnte das beim besten Willen nicht kontrollieren. »Männer, deren Geschmack auf Kinder gerichtet ist, verlieren das Interesse, sobald sich an dem Jungen die äußeren Merkmale des Mannes zu zeigen beginnen. Das hat nichts mit Liebe, egal welcher Art, zu tun. Die Kinder werden zur Befriedigung eines Bedürfnisses benutzt, so wie man auch öffentliche Toiletten benutzt.«
Eine Welle aus Empörung und Ekel wogte durch den Saal. Es war, als hätte jemand unter dem Fenster die Abdeckung einer Jauchegrube hochgeklappt.
Am deutlichsten drückte Tremaynes melancholisches, sensibles Gesicht die Stimmung aus. »Wollen Sie damit sagen, dass solche Männer alle Kinder, die in ihrer Gewalt sind, umbringen, sobald sie Zeichen des Erwachsenwerdens zeigen?«, fragte er erschüttert.
»Nein«, antwortete sie, so fest ihr das möglich war. Aufs Neue erlebte sie trotz ihrer zurückhaltenden Schilderung ihren Zorn und ihr Mitleid, und das so intensiv, dass ihr fast übel davon wurde. Ihre dürren Worte erschienen ihr selbst kalt und steril, doch die Gesichter der Geschworenen widerlegten diesen Eindruck. »Nein, mir wurde erklärt, dass sie normalerweise an Handelsschiffe verkauft werden, deren Kapitäne sich auf so etwas einlassen. Dort dienen sie dann als Stewards oder werden eingesetzt, wo gerade Not am Mann ist.« Sie ließ zu, dass ihre Miene die düstere tiefere Bedeutung ihrer Worte ausdrückte. »Sie verlassen den Hafen mit dem nächsten ausfahrenden Schiff und bleiben vielleicht für Jahre in der Fremde. Ja, es ist durchaus möglich, dass sie nie wieder zurückkehren.«
»Ich verstehe.« Tremayne war blass. Vielleicht hatte er selbst Söhne. »Warum
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