Galgenfrist für einen Mörder: Roman
war schuldig. Er war brutal, sadistisch und durch und durch verderbt. Er hatte zahllose Kinder missbraucht und mindestens eines ermordet. Beinahe hätte er auch einen Leichterschiffer umgebracht, einfach um die Polizei abzulenken und seine Flucht fortsetzen zu können. Monk und Orme hatten das mit eigenen Augen gesehen.
»Nein, natürlich nicht«, versicherte ihr Tremayne. »Aber ich werde einige äußerst gewalttätige und abstoßende Szenen schildern und Sie bitten müssen, sich im Zeugenstand an gewisse Dinge noch einmal zu erinnern, die Sie sicher viel lieber für immer vergessen würden. Dafür entschuldige ich mich schon jetzt bei Ihnen. Ich hatte gehofft, Ihnen das ersparen zu können.«
»Um des lieben Himmels willen, Mr. Tremayne!«, fuhr sie ihn an. »Mich kümmert doch nicht im Geringsten, über was oder wen Sie mich befragen! Wenn es unangenehm oder peinlich ist, was, um alles in der Welt, heißt das schon? Wir sprechen über das Elend und den Tod von Kindern. Was für Menschen sorgen sich bei solch himmelschreiendem Leid um Banalitäten wie das persönliche Wohlbefinden?«
»Nur um sich selbst Peinlichkeiten zu ersparen, nehmen manche Menschen in Kauf, dass andere einen hohen Preis bezahlen müssen, Mrs. Monk«, entgegnete er.
Diesen Einwand würdigte sie keiner Antwort.
Am Nachmittag begab sich Hester in den Zeugenstand. Beim Erklimmen der Wendeltreppe konzentrierte sie sich auf jede Stufe, um nicht über den Saum ihrer Röcke zu stolpern. Dann stellte sie sich dem Gericht und überblickte die Szene. Unterhalb von ihr hatte sich Tremayne auf der für die Anwälte reservierten freien Fläche postiert. Richter Sullivan thronte rechts von ihr auf seinem herrlich geschnitzten hohen Stuhl. Die zwölf Geschworenen hatten mit ernster Miene Hester gegenüber Platz genommen. Die Galerie für die Öffentlichkeit befand sich hinter den Pulten der Anwälte.
Hester hatte keine Angst davor, Jericho Phillips anzuschauen, der auf der Anklagebank saß. Sein Gesicht wirkte zerklüftet: eine knochige Nase, scharf geschnittene Wangenknochen, stark gewölbte Augenbrauen und Haare, die sich auch mit Wasser nicht glätten ließen. Sie machte in diesem Gesicht keine wie auch immer gearteten Emotionen aus.Vielleicht verbargen sich seine Gefühle in den ineinander verkrampften Händen, dem hinter der hohen Barriere fröstelnden Körper oder waren sonst wie den Blicken entzogen.
Sie vermied es, Oliver Rathbone anzublicken, der ruhig dasaß und auf seinen Auftritt wartete. Ebenso wenig versuchte sie zu erspähen, ob Margaret hinter ihm in der Publikumsgalerie saß. In diesem Moment wollte sie es einfach nicht wissen.
Tremayne begann. Seine Stimme klang zuversichtlich, doch in den letzten Wochen hatte sie ihn gut genug kennengelernt, um zu bemerken, dass er etwas unbeholfen dastand und seine Hände nervös bewegte. Er war sich seiner nicht mehr so sicher wie in den Tagen vor dem Prozess.
»Mrs. Monk, trifft es zu, dass Sie Gründerin und Betreiberin einer Klinik in der Portpool Lane sind, in der Frauen von der Straße kostenlos behandelt werden, wenn sie krank geworden sind, eine Verletzung erlitten haben oder nicht in der Lage sind, anderweitig Hilfe zu finden?«
»Ja.«
»Erhalten Sie dafür eine finanzielle Vergütung?«
»Nein.« Diese Antwort klang sehr karg. Hester wollte noch etwas hinzufügen, fand aber keine Worte. Rathbone ersparte ihr weiteres Grübeln, als er sich erhob.
»Mylord, wenn das Gericht es gestattet, möchte die Verteidigung auf die Tatsache hinweisen, dass Mrs. Monk im Krimkrieg als Krankenschwester unter Miss Nightingale Herausragendes leistete, nach ihrer Rückkehr in dieses Land couragiert und unermüdlich in Krankenhäusern gearbeitet hat und sich für das Zustandekommen einiger dringend nötiger Reformen einsetzte.«
Im Saal erhob sich beifälliges Murmeln.
»Danach hat sie ihre Aufmerksamkeit der Notlage der Stra ßenmädchen gewidmet«, fuhr Rathbone fort. »Frauen, die zur Prostitution gezwungen sind, weil sie verlassen oder Opfer eines Verbrechens wurden. Sie hat auf eigene Kosten eine Klinik eingerichtet, in der solche Frauen bei Erkrankungen oder Verletzungen behandelt werden. Diese Klinik ist inzwischen eine anerkannte Institution, die ehrenamtliche Helferinnen aus der Londoner Gesellschaft anzieht. Auch meine Frau widmet ihr einen großen Teil ihrer Zeit, sowohl um die Wohltätigkeitsspenden zu mehren als auch um beim Kochen, Reinigen und der Pflege der Kranken mitzuhelfen.
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