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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Gerichtsgebäude.

3
    Sofort nach der Eröffnung des zweiten Prozesstages am nächsten Morgen nahm Rathbone Hester ins Kreuzverhör. Zum zweiten Mal bezog sie im Zeugenstand Stellung. Sie trug ein schlichtes blaugraues Kleid, das einer Schwesterntracht nicht unähnlich sah, aber weitaus schmeichelhafter geschnitten war. Dass es ihren hellen Teint und ihre ruhigen, großen blauen Augen bestens zur Geltung brachte, wusste sie. Sie wollte sowohl kompetent als auch weiblich und auf natürliche Weise ehrbar wirken. Überflüssigerweise hatte Tremayne diesen Punkt ihr gegenüber erwähnt. Dabei wusste sie auch so, was Geschworene wollten und was für einer Persönlichkeit sie am ehesten glauben würden. Bei Monks vielen Fällen hatte sie oft genug ausgesagt oder andere Zeugen gehört und stets die Gesichter der Geschworenen beobachtet.
    »Darf ich der Bewunderung des Gerichts auch meine eigene hinzufügen, Mrs. Monk?«, begann Rathbone. »Sie leisten unerschrocken wertvolle wohltätige Arbeit.«
    »Danke.« Sie traute ihm nicht, auch wenn sie wusste, dass er sie tatsächlich äußerst schätzte, ja, dass seine Bewunderung mit einem gewissen Neid auf ihre Leidenschaftlichkeit durchsetzt war, denn zu oft hatte ihn in der Vergangenheit das Denken am Handeln gehindert. Und erst vor kurzem war ihm klar geworden, dass ihre Vorstellungskraft der seinen ebenbürtig war und sie sich sehr wohl ausmalen konnte, was es sie kosten würde, wenn sie bei etwas scheiterte. Nur lag ihr die Angelegenheit so sehr am Herzen, dass sie das Risiko trotz allem einging. Und jetzt stand Rathbone souverän in dem Gerichtssaal und machte ihr Komplimente.
    Dann begann das eigentliche Verhör. »Wie viel Zeit widmen Sie Ihrer Arbeit in der Portpool Lane, Mrs. Monk?«
    Tremayne rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und Hester kannte den Grund dafür: Er wartete auf Rathbones Angriff, ohne zu ahnen, aus welcher Richtung er erfolgen würde.
    »Das kommt auf die Umstände an.« Hester sah Rathbone fest in die Augen. »Während einer Krise arbeiten wir rund um die Uhr in Schichten und schlafen abwechselnd. In anderen Zeiten, wenn es wenig zu tun gibt, gehe ich nicht jeden Tag hin, sondern etwa zwei-, dreimal pro Woche.«
    »Krisen?« Rathbone schien das Wort im Mund hin und her zu drehen, als wollte er seinen Geschmack prüfen. »Was macht eine Krise aus, Mrs. Monk?«
    Diese Frage wirkte unschuldig, und dennoch spürte Hester eine Falle, die, wenn nicht jetzt, so doch später zuschnappen würde, wenn er sie behutsam mit anderen Fragen weitergeführt hatte. Die Leichtigkeit, mit der er sich erkundigte, alarmierte sie. Er kannte die Antwort längst. Bei der letzten und schlimmsten Krise war er immerhin persönlich dabei gewesen. Unter Einsatz seines Leben und – was ihm wahrscheinlich noch wichtiger war – seines Rufs hatte er geholfen, sie zu lösen. Sie hatte sein Verhalten gut in Erinnerung, seine Angst und seinen großen Mut, mit dem er sich ihr stellte, seinen Ekel und die Entschlossenheit. Warum bloß verteidigte er Jericho Phillips? Was war in der Zeit geschehen, in der sie sich aus den Augen verloren hatten?
    Er wartete auf eine Antwort. Hester spürte die Blicke aller auf sich. Der ganze Saal hing an ihren Lippen.
    »Wir haben eine Krise, wenn wir auf einen Schlag mehrere Schwerverletzte hereinbekommen«, sagte sie ruhig. »Nach einer Massenschlägerei, zum Beispiel. Oder schlimmer noch, mitten im Winter sieben oder acht Leute mit Lungenentzündung, schwerer Bronchitis oder vielleicht Schwindsucht. Und dazu noch offene Wunden oder Wundbrand.«
    Rathbone zeigte sich beeindruckt. »Und wie bewältigen Sie das alles auf einmal?«
    Tremayne hob den Kopf, als wollte er Einspruch erheben, doch niemand achtete auf ihn.
    »Wir haben nicht immer Erfolg«, erklärte Hester, »aber wir helfen, so gut wir können. Die meiste Zeit ist es zum Glück nicht ansatzweise so schlimm wie in solchen Krisenzeiten.«
    »Kommen zu Ihnen nicht immer wieder dieselben Leute?«, wollte Rathbone wissen.
    »Doch, selbstverständlich. Das ist bei jedem Arzt so.« Ein winziges Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Aber was hat das mit diesem Prozess zu tun? Man versucht zu helfen, wem man kann, einem nach dem anderen, Tag für Tag.«
    »Oder auch Tag und Nacht, mehrmals hintereinander.«
    »Falls nötig.« Ihre Unruhe nahm zu. Jetzt stilisierte er sie auch noch zur Heldin hoch, als hätte er vorübergehend vergessen, dass sie hier war, um eine Aussage zu machen, die

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