Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Rathbone nicht erwartet, dass ihm diese Aufgabe derart widerstreben würde. Einem echten Menschen gegenüberzustehen war etwas ganz anderes als all seine intellektuellen Theorien über die Justiz, egal, wie leidenschaftlich er dafür eintrat. Andererseits konnte er jetzt nicht mehr zurück, ohne seine Prinzipien zu verraten. Später, wenn er Hester verhören musste, würde er sich noch schlimmer fühlen.
»Ja, Sir, mit vielen Tragödien«, bestätigte Orme.
Rathbone nickte. »Aber das hat weder Ihr Empfindungsvermögen abstumpfen lassen noch Ihre Hingabe im Streben nach Gerechtigkeit für die Opfer unsäglicher Qualen und Morde beeinträchtigt.«
»Nein, Sir.« Ormes Gesicht war blass, seine Hände waren hinter dem Rücken verborgen, seine Schultern hochgezogen.
»Empfand Mr. Durban das ebenso stark?«
»Ja, Sir. Dieser Fall war … einer von den schlimmsten. Wenn Sie die Leiche dieses Jungen gesehen hätten wie wir – zerschlagen und mit Brandwunden übersät, mit so gut wie abgetrenntem Hals und dann einfach ins Wasser geschmissen wie irgendein Stück Vieh -, dann hätten Sie sich genauso gefühlt.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwiderte Rathbone leise, den Kopf etwas gesenkt, als stünde er selbst vor dem Toten.
Richter Sullivan beugte sich vor. Seine Züge waren verkniffen, seine Lippen aufeinandergepresst. »Verfolgen Sie eine bestimmte Absicht, Sir Oliver? Ich darf doch annehmen, dass Ihnen nicht entfallen ist, welche Seite Sie in dieser Angelegenheit vertreten?« Seine Stimme enthielt einen warnenden Unterton, und seine Augen blitzten.
»Nein, Mylord«, erwiderte Rathbone respektvoll. »Ich möchte dieWahrheit ermitteln. Diese Aufgabe dient letztlich der Menschheit und ist zu ernst und zu schrecklich, als dass ich mich mit weniger begnügen könnte.«
Sullivan gab sich mit einem Grunzen zufrieden, doch für einen Moment befürchtete Rathbone, sein Spiel zu weit getrieben zu haben. Ein kurzer Seitenblick auf die Geschworenen bestätigte ihm allerdings, dass er die richtige Taktik gewählt hatte. Er konnte förmlich spüren, wie ihn eine Welle der Erleichterung durchflutete. Dann musste er wieder an den in seiner Zelle in Newgate sitzenden Phillips denken, dem vor tröpfelndem Wasser graute, und schlagartig löste sich seine Zufriedenheit auf. Erneut wandte er sich Orme zu. »Sie und Mr. Durban haben während Ihrer gesamten Dienstzeit und darüber hinaus in Ihrer Freizeit viele Stunden daran gearbeitet?«
»Jawohl, Sir.« Orme wusste auf diese Frage nichts anderes zu antworten.
»Hat auch Mr. Monk sich mit einer derart leidenschaftlichen Hingabe dafür eingesetzt?« Rathbone musste diese Frage stellen. Sein Plan zwang ihn dazu.
»Jawohl, Sir.« Orme zögerte nicht eine Sekunde. Er schien sich absolut sicher zu sein.
»Ich verstehe. Das ist nicht überraschend und verdient großen Respekt.«
Tremayne rutschte auf seinem Stuhl herum. Allmählich beunruhigte ihn diese Bestätigung dessen, was er selbst herausgearbeitet hatte. Er hegte den Verdacht, dass Rathbone etwas im Schilde führte, kam aber nicht dahinter, was genau, und das machte ihn nervös.
Die Geschworenen waren lediglich erstaunt.
Rathbone war klar, dass er jetzt angreifen musste. Eines nach dem anderen griff er die Indizien auf, die erst Durban und dann Monk gesammelt hatten, und bat Orme, die Fakten zu nennen, die einen Zusammenhang zwischen dem Missbrauch des Jungen und Phillips’ Boot ausdrücklich bestätigten. Kein einziges Mal unterstellte er, dass es keine Gewalt gegeben hätte, betonte aber, dass das Entsetzen über die Tatsachen den Mangel an eindeutigen Verbindungen mit Jericho Phillips verdeckte.
Das Boot existierte. Unbestreitbar lebten dort Jungen im Alter von etwa fünf bis dreizehn Jahren. Es gab schwimmende Bordelle für Männer mit allen Arten von sexuellen Vorlieben, damit sie entweder selbst erotische Handlungen vornehmen oder einfach nur zusehen konnten. Unbestritten wurden pornografische Fotografien in dunklen Gassen und Hinterhöfen am Fluss zum Kauf angeboten. Aber welche eindeutigen Beweise hatten Durban, Monk oder Orme selbst dafür gefunden, dass diese bedauernswerten Kinder diejenigen waren, die Phillips auf seinem Boot hatte?
Es gab keine. Die Grausamkeit, Gier und Obszönität derTat hatten alle drei Beamten so tief erschüttert, dass sie in ihrem verzweifelten Bemühen, weiteren Verbrechen einen Riegel vorzuschieben und den oder die Schuldigen zu bestrafen, nicht daran gedacht hatten, ihre
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