Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Fakten mit hieb-und stichfesten Beweisen zu untermauern. Das war nur zu verständlich. Jeder anständige Mensch hätte demselben Irrtum unterliegen können. Aber jeder anständige Mensch wäre doch gewiss genauso entsetzt darüber, wenn wegen eines derart abscheulichen Verbrechens, das nichts weniger als den Galgen verdiente, der Falsche verurteilt würde.
Der Prozess wurde in völliger Verwirrung bis nach dem Mittagessen vertagt. Plötzlich wusste man nur noch, dass jede Gewissheit hinweggefegt worden war. Es blieben lediglich das Entsetzen und ein Gefühl von Hilflosigkeit.
Rathbone hatte sein Ziel in jedem Punkt erreicht. Sein Vorgehen war brillant. Selbst der gewitzte und scharfsinnige Tremayne hatte die Falle erst erkannt, nachdem er hineingetappt war. Entsprechend blass und wütend auf sich selbst verließ er den Gerichtssaal.
Hester wartete darauf, zu ihrer Aussage über ihre Rolle in den Ermittlungen gerufen zu werden, als Tremayne in der Mittagspause zu ihr kam. Sie saß in einem der Gasthäuser, in denen Mahlzeiten zubereitet wurden, war jedoch zu angespannt, um mehr als ein paar Bissen eines belegten Brotes zu kauen, die sie nur mit Mühe hinunterschluckte.
Der Kronanwalt ließ sich ihr gegenüber mit einer Miene tiefsten Bedauerns nieder. Auch er bestellte nicht mehr als ein belegtes Brot und ein Glas Weißwein.
»Es tut mir sehr leid, Mrs. Monk«, begann er, sobald sie allein waren. Um zu verhindern, dass ihn ein vorübergehender Gast belauschte, sprach er sehr schnell. »Es ist nicht so gut gelaufen, wie ich gehofft, ja eigentlich fest geplant hatte. Es erweist sich als unerwartet schwierig, die Zusammenhänge zwischen Phillips und den Opfern seiner Verderbtheit aufzuzeigen.«
Er musste ihr die Überraschung angesehen haben. »Sir Oliver ist einer der hervorragendsten Anwälte Englands und viel zu klug, um uns offen anzugreifen«, fuhr er fort. »Mir war klar, dass etwas nicht stimmte, als er das Entsetzliche an dem Verbrechen noch einmal aufbauschte. Ich hätte für das, was er tatsächlich beabsichtigt, gewappnet sein müssen.«
Hester überlief es eiskalt. »Welche Absicht verfolgt er?«
Tremayne errötete, und der letzte Rest von Ironie wich aus seinem Gesicht, um durch einen sanften Ausdruck ersetzt zu werden. »Wussten Sie denn nicht, dass er in diesem Fall die Verteidigung übernommen hat, Mrs. Monk?«
»Nein.« Kaum hatte sie das gesagt, erkannte sie an seiner Miene, dass er erst jetzt begriff, und wünschte sofort, sie hätte das nicht zugegeben. Er musste von ihrer Freundschaft mit Rathbone gewusst oder sie geahnt haben, und jetzt hatte er ihr angemerkt, dass sie sich betrogen fühlte.
»Das tut mir leid«, versicherte er ihr hastig. »Wie ungeschickt von mir. Er unterstellt, dass die Polizei sich mindestens ebenso von Mitleid und Empörung wie von Logik leiten ließ. Sie hat bewiesen, dass das Verbrechen begangen wurde, versäumte es aber, in kriminalistischer Feinarbeit die Verbindung zu Jericho Phillips lückenlos zu belegen.«
Er trank einen Schluck Wein, ohne dabei den Blick von Hesters Augen abzuwenden. »Er hat betont, dass wir bisher kein Motiv aufgezeigt haben, warum Phillips einen seiner Jungen hätte foltern und töten sollen – vorausgesetzt, wir können überhaupt je beweisen, dass Figgis bei ihm auf dem Boot war. Und Rathbone hat vollkommen recht, wenn er betont, dass wir auch dafür keinen Beweis haben, der über jeden Zweifel erhaben ist.«
»Aber wer könnte das denn schon bezweifeln?«, stieß Hester hitzig hervor. »Da fügt sich eines zum anderen und ergibt einen absolut schlüssigen Sinn. Mehr noch, es ist die einzige plausible Lösung.«
»Nach Abwägung aller Wahrscheinlichkeiten ist es tatsächlich so«, pflichtete Tremayne ihr bei. Er beugte sich etwas näher zu ihr über den Tisch. »Das Gesetz verlangt jedoch, dass wir unanfechtbare Beweise für die Schuld eines Mannes vorlegen, wenn er gehängt werden soll. Aber das wissen Sie ja, Mrs. Monk. Sie sind schließlich keine Novizin in Rechtsfragen.«
Hester fröstelte regelrecht, und das lag bestimmt nicht an dem stickigen Schankraum, wo auf dem Tresen die Krüge schimmerten, der mit Sägemehl bestreute Boden die Schritte schluckte und die Gerüche von Bier, warmen Speisen und zu vielen, dicht zusammengedrängten Leuten die Luft noch schwerer machten.
»Sie wollen doch nicht sagen, dass er davonkommen wird?«, fragte sie heiser. An diese Möglichkeit hatte sie nicht im Entferntesten gedacht. Phillips
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