Galgenfrist für einen Mörder: Roman
würde sofort so aussehen, als hätte er recht.
Der ganze Saal wartete auf ihre Antwort. Hester entdeckte schon Anzeichen von Mitleid in den Gesichtern. Selbst Tremayne wirkte verlegen.
»Nein, ich habe keine Kinder«, erklärte sie schließlich. Ihr lag die Bemerkung auf der Zunge, dass er auch keine hatte, doch auch das wäre unpassend – erneut würde man es nur als ungerechtfertigten Gegenangriff zur eigenen Verteidigung werten.
»Darf ich es so ausdrücken, dass Ihr Handeln Sie adelt, da Sie Ihre Zeit und Ihr Vermögen dafür verwenden, für die Kinder Fremder zu kämpfen, die unter dem Missbrauch und der Vernachlässigung durch genau die Menschen leiden, die für sie sorgen sollten?« Rathbone sprach in aller Aufrichtigkeit, doch nach seinen vorangegangenen Worten hörte es sich nach Mitleid an. Er wedelte mit der Hand, als wollte er das Thema beenden. »Sie nahmen also die Hilfe anderer Mudlarks in Anspruch, um diesen armen Jungen zu identifizieren, der in der Nähe der Anlegestelle Horseferry Stairs gefunden worden war. Und weil Sie Scuff gerettet hatten, erteilten sie Ihnen Auskunft, und zwar auf eine Weise, wie sie das bei Polizisten nicht getan hätten. Trifft das zu?«
»Sie haben geholfen«, antwortete Hester. »Irgendwelche Motive habe ich ihnen nicht unterstellt.« Das klang scharf, als wollte sie sich tatsächlich verteidigen. Es erforderte alle Selbstbeherrschung, die sie aufbringen konnte, um einen freundlichen Gesichtsausdruck zu wahren und jedes Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. »Aber wenn ich das tun wollte, würde ich wohl annehmen, dass es ihnen darum ging, sich selbst zu schützen und vielleicht auch dem Jungen, der zu ihnen gehört hatte, einen letzten Dienst zu erweisen.«
Rathbone lächelte. »Sie halten viel von ihnen, Mrs. Monk. Ihr Vertrauen und Ihre Zuneigung ehren Sie. Ich bin sicher, dass jede Frau in diesem Gericht gerne von sich sagen würde, sie würde dasselbe tun.«
Mit einem einzigen Satz hatte er ihre Leistungen als reine Frauensache abgetan, als der Wohltätigkeit dienend, aber unrea listisch.Wie schlau von ihm und wie fürchterlich unfair. Er wusste, dass sie alles andere als sentimental war. Jetzt musste sie zum Gegenangriff übergehen, sonst wurde sie niedergemäht.
»Ich bin Militärkrankenschwester, wie Sie vorhin erwähnt haben, Sir Oliver.« Ihre Stimme zitterte trotz all ihrer Bemühungen, und der Ton geriet ihr schärfer, als sie wollte. »Wunden sind real; sie hören nicht auf zu bluten, bloß weil Idealisten es gut mit einem meinen oder von Zuneigung sprechen. Wundbrand, Typhus oder Unterernährung lassen sich von guten Wünschen nicht beeindrucken. Ich bin oft gescheitert, vor allem bei Reformen, die ich hier gerne eingeführt hätte, aber das lag an meiner unverblümten Art, nicht an meiner Sentimentalität. Ich dachte, Sie hätten mich gut genug gekannt, um das zu wissen. Aber vielleicht waren Sie zu wohlmeinend in Ihrem Urteil und haben nur das gesehen, was Sie sehen wollten, etwas, das Sie für weiblich und schicklich hielten, etwas, das man leicht abtun kann.«
Überraschung flackerte in Rathbones Zügen auf – und auch Bewunderung. Diesmal waren seine Gefühle echt.
Er entschuldigte sich sogleich. »Sie haben mich eines Besseren belehrt, Mrs. Monk. Selbstverständlich haben Sie recht. Sie haben es nie an Mut fehlen lassen, höchstens an Takt. Sie erkannten, was getan werden musste, wussten aber nicht genug über die menschliche Natur, um die Leute davon zu überzeugen. Womit Sie nicht gerechnet hatten, waren die Arroganz, die Kurzsichtigkeit oder der Egoismus derer, die ein Interesse daran haben, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Sie sind idealistisch. Sie sehen, was möglich wäre, und streben danach, es zustande zu bringen. Sie kämpfen mit Leidenschaft, Mut und Ehre für die Unterdrückten, die Kranken und die Vergessenen dieser Welt. Sie sind aufsässig, wenn das Gesetz ungerecht ist, und dienen dem, was richtig ist, mit unbedingter Beharrlichkeit. Ist das eine redlichere Beurteilung Ihres Charakters?«
Diese Beschreibung war redlich, sogar großzügig. Zugleich stellte sie ein vernichtendes Urteil dar, was Hesters Unparteilichkeit als Zeugin betraf. Die Anwesenden im Gericht mochten sie schätzen und bewundern, aber sie würden das, was sie sagte, immer an der Leidenschaft ihrer Überzeugungen messen und feststellen, dass bei ihr das Gefühl schwerer wog als alles andere. Sie hatte Rathbones Argument gegen ihn gerichtet, und
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