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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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unseren Emotionen, unserem Mitleid oder Abscheu gestatten, uns unsere Gedanken zu diktieren oder sich unseres Verstandes zu bemächtigen. Auch wir haben den Wunsch, jemanden für diese Tat zahlen zu lassen, aber es muss der Richtige sein.«
    »Natürlich«, bestätigte Sullivan mit Nachdruck. »Fahren Sie fort, Sir Oliver, aber kommen Sie zur Sache.«
    Rathbone deutete eine Verbeugung an. »Danke, Mylord. Mr. Monk, haben Sie Mr. Durbans Aufzeichnungen studiert, um seine ursprüngliche Ermittlungsarbeit nachzuprüfen, oder haben Sie seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen als ausreichend akzeptiert?«
    »Ich habe sie noch einmal nachvollzogen und habe dieselben Personen erneut verhört, soweit das möglich war«, antwortete Monk in einem Ton, als läge dies auf der Hand.
    »Aber in jedem Fall kannten Sie bereits die Indizien, die Sie suchten«, hielt ihm Rathbone vor. »Mr. Durban begann beispielsweise mit einer unbekannten Leiche und musste Gewaltiges leisten, um zu erfahren, um wen es sich bei dem Jungen handelte. Sie begannen in dem Wissen, dass das Opfer Mr. Durbans Auffassung nach Walter Figgis hieß. Sie mussten nur noch beweisen, dass er recht hatte. Das sind keineswegs dieselben Handlungsweisen.«
    Mehrere Geschworene scharrten unbehaglich mit den Füßen. Für sie war der Unterschied offensichtlich.
    »Sind Sie sicher, dass Sie nicht lediglich etwas bestätigten, was Sie bereits zu glauben wünschten?« Damit schloss Rathbone seine Argumentation in Form einer Frage ab.
    »Ja, dessen bin ich sicher«, erklärte Monk energisch.
    Rathbone lächelte. Er hob den Kopf, und in seinem blonden Haar schimmerte das Licht.
    »Wie identifiziert man die Leiche eines Jungen, der schon seit Tagen im Wasser liegt, Mr. Monk?«, forderte er ihn heraus. »Sie hat sich doch sicher … dramatisch verändert? Das Fleisch …« Er führte den Gedanken nicht zu Ende.
    Die Stimmung im Gerichtssaal schlug im Nu um. Die Realität des Todes war wieder präsent, und vor ihrem Hintergrund wirkte das Wortgeplänkel blass und irrelevant.
    »Natürlich hat sie sich verändert«, sagte Monk sanft. »Was einmal ein zerschlagener, mit Brandflecken übersäter und unterernährter, aber durchaus lebendiger Junge war, ist zu kaltem Fleisch geworden, das aussieht, als hätte der Metzger es weggeworfen. Aber damit mussten wir arbeiten. Trotzdem war es wichtig, dass wir ermittelten, wer das war.« Er beugte sich etwas weiter über das Geländer seines Podests. »Er hatte immer noch Haare, eine bestimmte Größe, die Form seines Gesichts, ein paar Kleider und einen nicht unerheblichen Teil seiner Haut – genug, um seinen Teint zu erkennen – und natürlich sein Gebiss. Die Zähne der Menschen sind immer unterschiedlich.«
    Im Saal wurde allenthalben scharf nach Luft geschnappt. Mehr als eine Frau musste ein Schluchzen unterdrücken.
    Ungerührt fuhr Monk mit seiner drastischen Darstellung fort. »In diesem Fall hatte Durban geschrieben, dass Spuren alter und neuer Brandwunden an den Innenseiten seiner Arme und Schenkel vorlagen.« Das ganze Grauen sollte ruhig bekannt werden. »An diesen Stellen verbrennt sich niemand versehentlich.«
    Auch Rathbones Gesicht war blass geworden und seine Haltung steif. »Das ist abscheulich, Mr. Monk«, sagte er leise, »aber es ist kein Beweis für eine Identität.«
    »Es ist ein Anfang«, widersprach Monk. »Ein unterernährtes Kind, das gefoltert wurde und begonnen hat, sich vom Jungen in einen Mann zu verwandeln, und niemand hat sich über sein Verschwinden beklagt? Das engt die Stellen, wo man suchen muss, Gott sei Dank erheblich ein. Durban fertigte mehrere Zeichnungen von dem Jungen an, wie er wahrscheinlich ausgesehen hatte. Darauf verstand er sich sehr gut. Die zeigte er dann stromaufwärts und -abwärts am Ufer herum, insbesondere bei Leuten, die einem Bettler, einem Gelegenheitsdieb oder einem Mudlark begegnet sein könnten.«
    »Er nahm an, dass er einer dieser Gruppen angehört haben könnte?«
    »Das weiß ich nicht, aber es war für den Anfang die naheliegendste Schlussfolgerung, und wie sich herausstellte, war es die richtige.«
    »Ah ja.« Rathbone nickte. »Jemand erkannte den Jungen auf einer dieser Zeichnungen, die Durban anhand dessen, was von dem Jungen übrig war, angefertigt hatte. Sie erwähnten Haar, Färbung der Haut bis zu einem gewissen Grad, Form des Schädels und so weiter. Korrigieren Sie mich, wenn ich mich täusche, Mr. Monk, aber könnten solche dürftigen Merkmale nicht

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