Galgenfrist für einen Mörder: Roman
einem wohlbehüteten Familienurlaub in Frankreich absah. Hester hatte mitbekommen, wie Margaret sich in Rathbone verliebt und ihr Möglichstes getan hatte, um ihn für sich zu gewinnen. Darüber geredet hatten sie nicht. Keine von ihnen trug das Herz auf der Zunge, was ihre Träume und Ängste betraf, aber beide hatten einander auch ohne Worte immer sofort verstanden.
Gemeinsam hatten sie Kranke und Sterbende versorgt und sich bei Gewalt und Verbrechen der Wahrheit gestellt. Jetzt standen sie zum ersten Mal auf verschiedenen Seiten. Egal, was sie sagten, es würde die Situation nur verschlimmern. Rathbone hatte Hester im Zeugenstand persönlich angegriffen und mit der Bloßstellung derer, denen sie vertraut hatte, ihren Glauben an den Anstand erschüttert. Vor allem hatte er den Anschein erweckt, Monk hätte seine Kollegen, die ihm in die Schlacht gefolgt waren, im Stich gelassen.
Margaret war natürlich Rathbone ergeben. In ihrer Lage hatte sie auch gar nicht die Möglichkeit, Stellung gegen ihn zu beziehen. Damit waren die Frontlinien festgelegt.
Margaret zögerte, als wollte sie lächeln, etwas sagen, ihr Mitgefühl ausdrücken. Aber dann begriff sie, dass alles missverstanden werden konnte, und überlegte es sich anders.
Hester machte es ihr leichter, indem sie sich abwandte und die Treppe hinunterstieg.
Margaret würde einen Hansom nehmen. Hester stieg in einen öffentlichen Pferdeomnibus, der sie zur Fähre über den Fluss brachte. Am anderen Ufer angekommen, ging sie zu Fuß zu ihrem Haus in der Paradise Place und trat durch die Vordertür ein. In dem von der Sommersonne aufgewärmten Haus herrschte Stille. Sie wohnten in der Nähe des Southwark Park, von dem entferntes Lachen herüberwehte.
Hester verbrachte ganz allein einen grässlichen Abend. Am Fluss hatte es vor Limehouse Reach einen schlimmen Vorfall gegeben, und als Monk heimkam, war er zu erschöpft, um über irgendetwas zu reden. So blieb es Hester verwehrt, mit ihm über den vergangenen Tag zu sprechen.
Auch Rathbone verlebte einen äußerst unangenehmen Abend, obwohl Margaret sein Geschick und überraschenderweise auch seine Moral pries.
»Natürlich belastet es dich«, tröstete sie ihn nach dem Dinner. Sie saßen einander vor der geöffneten Terrassentür gegenüber. Eine in der Abenddämmerung aufkommende Brise trug vom Garten Vogelzwitschern und das leise Rauschen von Blättern herein. »Niemand deckt gern die Schwächen seiner Freunde auf, vor allem nicht in der Öffentlichkeit«, fuhr sie fort. »Aber du kannst ja nichts dafür, dass sie sich so auf Jericho Phillips versteift haben. Es wäre wirklich ein schlimmer Fehler gewesen, wenn du dich geweigert hättest, ihn oder sonst wen zu verteidigen, nur weil Freunde von dir hinter der Anklage stehen. Wenn das gängige rechtliche Praxis wäre, gäbe es bald keine Strafverteidiger mehr, denn man könnte den Prozess ja verlieren, oder er könnte die Überzeugungen des Anwalts, wenn nicht sogar sein gesellschaftliches Prestige infrage stellen. Kein Ehrenmann tut nur das, was für ihn bequem ist.« Ihre Augen leuchteten, und ihre Haut schimmerte in einem warmen Farbton.
Es freute Rathbone, dass sie ihn so aufrichtig bewunderte, aber es war eine schuldbewusste Freude wie beim Verzehr einer gestohlenen oder zumindest nicht auf ehrliche Weise ergatterten Frucht. Er rang nach Worten, die sein Dilemma zu erklären vermochten, aber der Sachverhalt war einfach zu komplex, um ihn knapp zu umreißen, und an ihrem Lächeln erkannte er, dass sie nicht wirklich zuhörte. So sagte er am Ende gar nichts und schämte sich seiner selbst.
Am nächsten Tag setzte Rathbone beim Beginn der Verhandlung zu dem von ihm beabsichtigten »Gnadenstoß« an. Jetzt hatte er gar keine andere Wahl mehr, als seine Strategie fortzusetzen. Es war undenkbar, dass er weniger leisten würde als sein Bestes, denn selbst bei einem Mann wie Jericho Phillips hieße das, alles zu verraten, was sein Berufsethos ausmachte. Über den politischen Schlachten, über den Regierungen, den guten wie den schlechten, stand die Rechtsprechung. Ob sie sich von ihrer brillantesten Seite zeigte oder von ihrer korruptesten und inkompetentesten, die Unparteilichkeit des Gesetzes, seine Macht, jeden Einzelnen ohne Furcht oder Begünstigung vor Gericht zu rufen, war der Grundstein, auf dem jede zivilisierte Gesellschaft errichtet war.
Wenn Anwälte das Urteil fällten, würde das einen Verrat an dem von einfachen Männern gebildeten
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