Galgenfrist für einen Mörder: Roman
war und die mit ihrer fehlgeleiteten Hingabe für wohltätige Zwecke und einem gewissen kriegerischen Auftreten keinem ehrbaren Mann aus ihrer eigenen Klasse attraktiv erscheinen konnte? Ihr Beispiel sollte allen jungen Damen aus gutem Haus als Lehre dienen, damit sie nicht von dem Pfad abwichen, den ihnen die Natur und die Gesellschaft vorgezeichnet hatten. Nur dann konnten sie Erfüllung in ihrem Leben finden.
Der Artikel war von maßloser Herablassung. Als Hester ihn gelesen hatte, fand sie eine Reihe von Kraftausdrücken für den Verfasser und dessen Vorfahren, die sie in ihren Tagen bei der Armee aufgeschnappt hatte. Ein paar Minuten später blickte sie nervös zu Monk hinüber und entschuldigte sich aus Sorge, sie könnte ihn schockiert haben.
Er grinste sie nur an, vielleicht etwas düster, denn die Bemerkungen über sie hatten ihn genauso, wenn nicht sogar noch tiefer verletzt als sie.
»Du wirst mir vielleicht erklären müssen, was das bedeutet«, schmunzelte er. »Aber es kann gut sein, dass ich den einen oder anderen von diesen Ausdrücken selbst schon mal verwendet habe.«
Hester errötete und blickte weg, doch die Anspannung wich aus ihrem Körper und die in ihrem Schoß ineinander verknoteten Hände lösten sich.
Das Allerschlimmste, was in den Zeitungen stand, war eine einzige Zeile, die fast wie ein Nachgedanke angefügt war. Darin hieß es, dass die Wasserpolizei möglicherweise ausgedient hatte und ihren Zweck einfach nicht mehr erfüllte. Vielleicht war es an der Zeit, die einzelnen Wachen als eigenständige Einheiten aufzulösen und unter das Kommando der nächsten städtischen Einheit zu stellen. Diese Angelegenheit hatten sie jedenfalls dermaßen stümperhaft erledigt, dass Jericho Phillips, sollte er wirklich schuldig sein, für immer der Schlinge entkommen war, zumindest was den Mord an Walter Figgis betraf. Und nun stand es ihm frei, sein Gewerbe unbehelligt fortzuführen. Das aber war eine Verhöhnung von Recht und Gesetz, die nicht erlaubt werden durfte, unabhängig davon, welche wohlmeinenden, doch unfähigen Beamten entlassen werden mussten.
Hester kochte immer noch vor Wut und Empörung, als sie im Pferdeomnibus in Richtung Portpool Lane fuhr. Es war in diesem Moment, dass sie sich schwor, all diese Kommentatoren zu widerlegen und, was ihr unendlich viel wichtiger war, zu beweisen, dass Monk im Recht war. Andererseits war sie realistisch genug, um zu wissen, dass das nicht von allein geschehen würde. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Phillips des Mordes fähig oder sogar bereits schuldig war, wenn nicht an Fig, dann an anderen. Aber trotz allem ließ sich nicht daran rütteln, dass sie in ihrer Empörung und Gewissheit allzu sorglos vorgegangen waren und vergessen hatten, dass das Gesetz Präzision verlangte, zumal wenn es von jemandem wie Oliver Rathbone angewendet wurde.
Und das bereitete ihr zusätzlichen Schmerz. Dieser war von anderer Art und wirkte zunächst weniger akut: eine umfassende, blinde Trauer, die in alle Lebensbereiche eindrang und sie verdunkelte. Wenn sie jetzt noch einmal von vorn begannen, bedeutete das für Hester, dass sie ihre eigenen Nachforschungen noch einmal aufrollen musste. Und dieser Weg führte sie zurück in die Klinik. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie Margaret wiedertreffen würde. Hester hatte Margaret schon am ersten Tag in ihr Herz geschlossen. Die junge Frau war damals scheu und zutiefst verletzt gewesen, weil ihre Mutter sie mit wiederholten Versuchen, sie an irgendjemand Passenden zu verheiraten, gedemütigt hatte – passend natürlich nach den Vorstellungen der Mutter, nicht der Tochter. Zu Margarets Entsetzen hatte Mrs. Ballinger bei einer Begegnung mit Rathbone anlässlich eines Balles auch ihm in Margarets Gegenwart deren Vorzüge angepriesen, nur zu offensichtlich in der Absicht, bei dem Anwalt Heiratsgelüste zu wecken.
Hester war von lebhafter persönlicher Anteilnahme ergriffen gewesen. Nie würde sie die ähnlich gearteten Bemühungen ihrer eigenen Familie vergessen. Sie war sich wie Ballast vorgekommen, den man bei der erstbesten Gelegenheit über Bord warf. Dank Hesters Fähigkeit, sich in Margarets Situation einzufühlen, war eine Verbundenheit zwischen den zwei Frauen entstanden. Margaret hatte durch die Arbeit in der Klinik eine Bestimmung und persönliche Freiheit gefunden, ja sogar ein neues Selbstwertgefühl, das ihr kein anderer Mensch gegeben hatte oder ihr jetzt wieder wegnehmen konnte.
Später
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