Galgenfrist für einen Mörder: Roman
bearbeiteten, sondern auch die der übrigen Beamten auf der Wache. Auch die in den Archiven gelagerten Anklageschriften hatte er studiert.
Hester beobachtete ihn immer noch. Er glaubte zu wissen, was sie ihm sagen wollte, wenn nicht mit dem Fragment, das sie gerade in der Hand hielt, dann mit dem nächsten oder übernächsten, die sie ihm bald zeigen würde. Die ganze Angelegenheit belastete ihn schwer, und er hatte keine Möglichkeit, ihr auszuweichen.
»Damit könnte er etwas gemeint haben, das mit seinem eigenen Leben zu tun hat«, antwortete er seiner Frau nach langem Schweigen. »Etwas Persönliches. Mir war nie wirklich klar, wie wenig ich im Grunde über ihn weiß.« Ihm fielen wieder die hektischen Tage ein, an denen sie gemeinsam nach der Besatzung der Maude Idris gefahndet hatten. Nie hatte er einen entsetzlicheren Fall bearbeitet, und trotzdem war zwischen ihnen eine Gemeinschaft entstanden, die ihm bei der Erinnerung daran ein Lächeln entlockte. Durban hatte ihn gemocht, und er kannte niemanden, der ihm jemals solche Gefühle mit der gleichen Aufrichtigkeit entgegengebracht hatte, ohne dies mit irgendwelchen Bedingungen zu verbinden.
Falls er früher einen ähnlichen Freund gehabt hatte, war das in den dunklen Zeiten seines Lebens gewesen, die aus seinem Gedächtnis gelöscht worden waren. Gelegentlich erlebte er Momente, in denen Licht in dieser Dunkelheit aufblitzte, aber die waren so kurz, dass sie ihm allenfalls ein einzelnes Bild vermittelten, nie eine Geschichte. Wenn das stimmte, was er über den, der er gewesen war, gehört oder sich abgeleitet hatte, hatten ihn offenbar eine derart kalte Intelligenz und zerstörerische Energie angetrieben, dass er selbst Leute wie Durban abgeschreckt hätte. Runcorn hatte ihn jedenfalls nicht gemocht, und weder Hester noch Rathbone hatten ihn damals gekannt. Hester hätte ihn vielleicht gezähmt, aber wozu hätte sie sich damals mit ihm abgeben sollen? Er hatte wenig Menschlichkeit zu bieten gehabt. Das hatte sich erst geändert, als ihn die Verwirrung über sich selbst und eine schmerzhafte Verletzbarkeit angesichts der Furcht vor der eigenen Schuld an Joscelyn Grays Tod dazu gezwungen hatten, sich mit seinen innerlichen Abgründen auseinanderzusetzen.
Er war froh, dass Durban nur den Mann kennengelernt hatte, der er geworden war, und nicht das Original.
Aber was für unbekannte Trümmer mochten sich noch auf den freien Flächen zwischen den Erkenntnissen Durbans befinden, die er herausgefunden hatte? Würde ihn der Drang, Jericho Phillips verurteilt zu sehen, dazu zwingen, in Bereiche von Durbans Leben einzudringen, die dieser lieber für sich behalten hatte, weil es auch hier Schmerzen, Versagen oder alte Wunden gab, die er hatte vergessen müssen?
»Ich kann mich gar nicht mehr an seine Stimme erinnern«, sinnierte er laut und sah Hester in die Augen. »Sein Gesicht, sein Gang, was ihn zum Lachen brachte, was er gern aß. Er hat für sein Leben gern das Morgengrauen über dem Fluss und die ersten Fähren beim Ablegen beobachtet. Er lief oft allein am Ufer entlang und verfolgte das Spiel von Licht und Schatten und das Aufsteigen des morgendlichen Nebels, bis er sich wie Seidengaze auflöste. Gern betrachtete er auch den Wald aus Masten, wenn viele große Schiffe im Hafen vor Anker lagen. Er liebte die Geräusche und Gerüche auf den Kais, vor allem dann, wenn die Ladung der Gewürzschiffe gelöscht wurde. Er lauschte gerne den Schreien der Möwen und dem Gerede der Seeleute in allen möglichen fremden Sprachen, als ob die ganze Welt mit ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt hier in London zu Gast wäre. Er sprach nie darüber, aber ich glaube, er war stolz darauf, Londoner zu sein.«
Seine Emotionen überwältigten ihn. Er holte tief Luft.
»Ich wollte nicht über meine Vergangenheit sprechen, und seine war mir egal. Bei jedem von uns ist es doch so, dass das zählt, was und wer er heute ist.«
Hester lächelte ihn an, dann wandte sie den Blick ab, um ihn gleich wieder auf Monk zu richten. »Durban war eine reale Persönlichkeit, William«, sagte sie sanft. »Gut und böse, klug und dumm. Sich Teile auszusuchen, die man mögen kann, hat eigentlich nichts mit Mögen zu tun. Das ist dann keine Freundschaft, sondern eine Annehmlichkeit. Du bist über so etwas erhaben, egal, ob er es auch war oder nicht. Sind deine Träume – oder deine Erinnerungen an Durban – mehr wert als das Leben anderer Jungen wie Fig?« Sie biss sich auf die Lippe. »Oder
Weitere Kostenlose Bücher