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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Scuff?«
    Monk zuckte zusammen. Ihr sanfter Ton hatte ihn vergessen lassen, wie schonungslos ehrlich sie sein konnte.
    »Ich weiß, dass es eine Verletzung des Intimbereichs bedeutet, wenn man den ganzen Menschen untersucht«, fuhr sie fort. »Mehr noch, es ist unanständig, wenn er tot ist und keine Möglichkeit mehr hat, sich zu verteidigen, zu erklären oder irgendetwas zu bereuen. Die Alternative ist, alles einfach auf sich beruhen zu lassen, aber ist das nicht noch schlimmer?«
    Es war eine bittere Wahl, doch wenn Durban leichtfertig oder vielleicht sogar unehrlich gewesen war, dann musste man sich dem stellen. »Ja«, gab Monk zu. »Gib mir die Papiere. Wir werden sie danach sortieren, welche wir verstehen, welche nicht und welche vermutlich nie einen Sinn ergeben werden. Aber diesen Dreckskerl von Phillips schnappe ich wieder, und mag die Fahndung noch so lang oder beschwerlich sein. Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich werde ihn ungeschehen machen.«
    »Wir beide haben Fehler gemacht«, verbesserte ihn Hester mit leicht verkniffener Miene. »Ich habe zugelassen, dass Oliver mich als überemotionale Frau hinstellt, deren Kinderlosigkeit sie zu hysterischen und unbedachten Urteilen verleitet hat.«
    Er bemerkte den Schmerz in ihrem Gesicht, die Selbstironie, und allein schon deshalb wollte er Rathbone so lange nicht verzeihen, bis dieser vollständig Abbitte geleistet hatte, und vielleicht nicht einmal dann. Schließlich hatte Hester noch etwas anderes verloren – die wertvolle und echte Freundschaft Rathbones. Wie Monk hatte sie keine fest verbundene, liebende Familie mehr. Einen Bruder hatte sie auf der Krim verloren, den Vater durch Selbstmord, und die Mutter war an ihrem gebrochenen Herzen gestorben. Ihr einziger noch lebender Angehöriger, ihr zweiter Bruder, war ein distanzierter, steifer Mann, mit dem sie keine Freundschaft verband. Was Monk betraf, würde er eines Tages, wenn er Zeit hatte, seine Schwester besuchen müssen, an die er so gut wie keine Erinnerungen hatte. Er glaubte nicht, dass sie einander besonders nahe gewesen waren, auch nicht in der Zeit vor seinem Gedächtnisverlust, und nahm an, dass die Schuld dafür bei ihm lag.
    Er legte die Dokumente beiseite und beugte sich zu Hester hinüber. Sanft küsste er sie und zog sie dann an sich. »Morgen ist auch noch ein Tag«, flüsterte er. »Lass es gut sein – für heute.«
     
    Monk stand früh auf. Als Erstes ging er nach draußen, um die Zeitungen zu kaufen. Kurz erwog er, sie nicht mit nach Hause zu nehmen, um Hester neuen Schmerz zu ersparen, doch dann verwarf er den Gedanken. Sie brauchte seinen Schutz nicht und würde ihn wohl auch gar nicht wollen. In ihren Augen wäre das keine Rücksicht, sondern vielmehr ein Akt der Ausgrenzung. Und nach der Aufrichtigkeit und der Leidenschaft gestern Nacht verdiente sie ganz gewiss etwas Besseres von ihm. Allmählich, dachte er mit einem Lächeln, begann er ja vielleicht, die Frauen zu verstehen, oder zumindest eine Frau.
    Sonst hatte er keinen Grund, zu lächeln. Als er sich Hester gegenüber am Frühstückstisch niederließ, beide mit einer aufgeschlagenen Zeitung vor sich, wurde ihnen das ganze Ausmaß dieser hässlichen Angelegenheit erst so richtig klar. Durban wurde als inkompetent abgestempelt, als ein Mann, dem der Tod die Schande erspart hatte, aus seinem Amt gejagt zu werden, nachdem er – großzügig betrachtet – einen persönlichen Rachefeldzug gegen einen besonders gierigen Kriminellen am Fluss geführt hatte oder – im schlimmsten Fall – eine extrem fragwürdige Berufsethik bewiesen hatte.
    Monk selbst kam kaum besser weg: ein Amateur, der über die Köpfe weit erfahrenerer Männer hinweg an deren Spitze gesetzt worden und mit seiner Aufgabe restlos überfordert war. Mit Übereifer hatte er sich darum bemüht, eine eingebildete Schuld bei einem Freund abzutragen, den er in Wahrheit so gut wie gar nicht gekannt hatte, und verriet damit einen besorgniserregenden Mangel an Urteilsvermögen.
    Das Urteil über Hester fiel milder aus – allerdings nur auf den ersten Blick. Sie wurde als überemotional charakterisiert: getrieben von Anhänglichkeit an ihren Mann und von törichter Zuneigung zu einer Sorte von Kindern, auf die sie mangels einer Möglichkeit, die eigenen Mutterinstinkte auszuleben, fixiert war und die sie in völlig unangebrachter Weise verhätschelte. Aber was konnte man schon von einer Frau anderes erwarten, der ihre natürliche Rolle in der Gesellschaft verwehrt

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