Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Kindesmissbrauchs und der Pornografie, wenn nicht sogar – und daran hatte Monk nicht den geringsten Zweifel – des Mordes. Es lag an Monks Sorglosigkeit und an seiner Unfähigkeit, sich jeden Details zu vergewissern, alles doppelt und dreifach zu überprüfen und zu beweisen, dass es Rathbone überhaupt gelungen war, ihn als von Emotionen und nicht von seiner Vernunft bestimmt hinzustellen, sodass Phillips durch die Grauzone des berechtigten Zweifels hatte entschlüpfen können.
Er blickte zu Hester auf. »Ich kann das nicht so stehen lassen«, erklärte er laut. »Für mich nicht und auch nicht für die Wasserpolizei.«
Sie legte ihren Löffel ab und schaute ihm in die Augen, fast ohne zu blinzeln. »Was kannst du tun? Noch einmal kannst du ihn nicht vor Gericht bringen.«
Er sog scharf die Luft ein und wollte schon antworten, als er die Aufrichtigkeit und die Sanftheit in ihren Augen erkannte. »Das weiß ich. Und wir waren uns so sicher, ihn des Mordes an Figgis überführen zu können, dass wir ihm erst gar nicht den Überfall auf den Fährschiffer zur Last gelegt haben. Wenn wir das jetzt versuchen, sieht das nach billiger Rache aus, weil wir gescheitert sind. Er wird behaupten, er wäre ausgerutscht, es wäre nur ein Unfall gewesen und er hätte um sein Leben gekämpft. Wie auch immer, wir werden nur noch … unfähiger wirken.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Dann müssen wir diesmal einfach wissen, was wir wollen – und zwar ganz genau. Die Wahrheit zu erkennen ist nicht genug, nicht wahr?« Das war eine Provokation und eine Aufforderung, sich einem Kampf zu stellen, der weit mehr als die Bitternis über den heutigen Tag umfasste. Wie praktisch sie dachte. Aber als Krankenschwester musste sie das ja auch. Die Behandlung von Erkrankungen des Körpers war vor allem eine praktische Angelegenheit. Zeit war kostbar, und Fehler oder Ausreden hatten da keinen Platz. Ein solcher Beruf erforderte beherztes Handeln, den Glauben an den Wert der Arbeit, unabhängig vom späteren Ergebnis – wenn man heute scheiterte, musste man dennoch beim nächsten Mal wieder alles geben, ebenso beim übernächsten Mal, immer wieder aufs Neue.
Sie aß ihren Pflaumenauflauf nicht weiter, sondern wartete auf eine Antwort.
»Wenn ich nur genügend über ihn in Erfahrung bringe, werde ich ihm irgendeine Schuld nachweisen können«, erklärte Monk. »Selbst wenn es nicht für den Galgen reicht, wird er doch für eine Weile im Coldbath Fields verschwinden, und so lange sind Dutzende, vielleicht sogar über hundert Jungen vor dem Missbrauch durch ihn geschützt. Und bis zu seiner Entlassung könnte sich vieles geändert haben. Vielleicht stirbt er ja auch hinter Gittern. Er wäre nicht der Einzige.«
Hester lächelte. »Dann fangen wir eben noch einmal an, ganz von vorn.« Sie schluckte den letzten Bissen hinunter und stand auf. »Aber vorher gibt es eine Tasse Tee. Und es sind immer noch zwei Stück Apfelkuchen übrig. Wer die ganze Nacht wach bleiben und Pläne schmieden will, sollte das nicht mit halb leerem Magen tun.«
Plötzlich schlug eine Welle der Dankbarkeit in Monk hoch und erstickte seine Antwort. Er beugte sich über seinen Auflauf und aß ihn mit Bedacht auf.
Danach breiteten sie Durbans Aufzeichnungen auf dem Tisch, den Stühlen und dem Boden im Wohnzimmer aus und machten sich daran, jedes einzelne Blatt noch einmal genau zu studieren. Zum ersten Mal fiel Monk auf, wie lückenhaft die Notizen waren. Bei einigen wimmelte es von Beschreibungen, in denen offenbar kein Detail ausgelassen worden war. Andere dagegen bestanden aus nichts als einzelnen hingekritzelten Wörtern und hatten allenfalls als Erinnerung an Überlegungen gedient, die nie zu Ende geführt worden waren. Teilweise waren die in aller Eile hingeschmierten Worte kaum noch leserlich, und die zerklüfteten, mit dicken Strichen aufgetragenen Buchstaben ließen auf heftige Gefühlsaufwallungen schließen.
»Weißt du, was das hier bedeutet?« Hester hielt ein zerrissenes Stück Papier hoch, auf dem ganz oben die Fragen »War es Geld? Was sonst?« prangten, die, dem Schriftbild nach zu urteilen, später hinzugefügt worden waren.
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Monk. Er selbst hatte andere Notizen entdeckt, unbeantwortete Fragen, von denen er bisher angenommen hatte, sie bezögen sich auf Phillips, was ihm jetzt jedoch nicht mehr eindeutig erschien. Damals hatte er die Aufzeichnungen zu allen Fällen mehrfach überprüft, nicht nur die von Durban
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