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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hatte Rathbone erkannt, dass er Margaret wirklich liebte. Mit Barmherzigkeit hatte das nicht das Geringste zu tun. Er wollte sie keineswegs retten. Vielmehr war es sein Privileg, sich seinerseits ihre Liebe zu verdienen.
    Jetzt war mit dem Freispruch für Jericho Phillips auch die Nähe zu Margaret getrübt, wenn nicht sogar zerstört worden, und Vertrautheit war Befangenheit gewichen.
    Die lange Omnibusfahrt endete, und Hester legte den kurzen restlichen Weg durch die Portpool Lane im riesigen Schatten der Brauerei zu Fuß zurück. Dann trat sie durch das Portal in das weit verzweigte Innere der zwei Häuser, die miteinander zu einer großen Klinik verbunden worden waren, in der Kranke und Verwundete behandelt, untergebracht und falls nötig langfristig gepflegt werden konnten. Wenn ein Notfall vorlag und die Prozedur keinen allzu großen Aufwand erforderte, wurden hier sogar Operationen durchgeführt wie zum Beispiel die Amputation eines Fingers oder Zehs, das Zusammenfügen von Knochen oder das Vernähen von Stichwunden. Ein-, zweimal hatte die Entfernung von Kugeln angestanden und in einem Fall die Amputation eines brandigen Fußes. Das Herausziehen von Splittern aller Arten, das Einrenken von Gliedern, gelegentlich eine schwierige Geburt, die Behandlung von Bronchitis, Fieber, Lungenentzündung oder Schwindsucht gehörten in der Klinik zum Alltag. Mehr als eine Frau war nach einer verpfuschten Abtreibung gestorben, obwohl alle in der Klinik sich verzweifelt darum bemüht hatten, sie zu retten. Sie hatten zu viele Triumphe und Verluste miteinander geteilt, um eine Freundschaft ohne weiteres sterben zu lassen.
    Doch als Hester durch das Portal schritt und von Bessie begrüßt wurde, verspürte sie, anders als sonst immer, keinerlei Erwartung von Herzlichkeit. Sie erwiderte den Gruß und erkundigte sich danach, was in den letzten zwei Tagen geschehen war, als sie nicht hatte da sein können. Natürlich kannte Bessie wie alle anderen den Grund für Hesters Abwesenheit. Sie nun über den Ausgang des Prozesses aufzuklären, das war eine Aufgabe, auf die Hester sich wahrlich nicht freute. Aber da verhielt es sich wie mit Rizinusöl: Am besten brachte man es schnell hinter sich.
    »Wir haben verloren«, sagte Hester, bevor Bessie fragen konnte. »Phillips ist ungeschoren davongekommen.«
    Bessie war eine große Frau mit streng nach hinten gekämmtem Haar, das von zwei Klammern derart straff zusammengehalten wurde, dass Hester sich immer wieder fragte, wie sie das nur ertrug. Heute wirkte sie noch erboster als normalerweise, doch ihre Augen waren merkwürdig sanft. »Das weiß ich schon«, erklärte sie kurz angebunden. »Dieser Anwalt hat Ihnen jedes Wort im Mund umgedreht, damit es so aussieht, als ob es Ihre Schuld wär’. Ich hab’s schon gehört.«
    Das stellte eine Komplikation dar, an die Hester noch gar nicht gedacht hatte: verschiedene Fraktionen unter einem Dach. Noch eine bittere Medizin, die sie schlucken musste. »Das war Sir Olivers Aufgabe, Bessie. Wir hätten unsere Beweise schlüssiger präsentieren müssen, dann hätte er sie nicht zerpflücken können. Wir haben uns nicht sorgfältig genug vorbereitet.«
    »Dann wollen Sie jetzt einfach aufgeben?«, blaffte Bessie und starrte sie mit einer Miene an, die alles auf einmal ausdrückte: Fassungslosigkeit, Mitleid und Verletztheit.
    Hester schluckte. »Nein. Ich beabsichtige, noch einmal von vorn anzufangen.«
    Bessie ließ ein strahlendes Lächeln aufblitzen, das so schnell wieder verschwand, dass man es für eine Illusion hätte halten können. »Gut. Dann wird’s nötig sein, dass ich und die anderen alle regelmäßig herkommen.«
    »Tun Sie das bitte. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
    Bessie schnaubte. »Lady Rathbone is’ in der Küche. Gibt wohl wieder Anweisungen. Und Squeaky is’ im Büro und zählt Geld.« Sie beobachtete aufmerksam Hesters Reaktion.
    »Danke«, erwiderte Hester, angestrengt darum bemüht, sich so wenig wie nur möglich anmerken zu lassen. Dann stapfte sie los. Wenn sie den Stier bei den Hörnern packte, war die Begegnung umso schneller überstanden. Außerdem musste sie mit Squeaky Robinson noch ein längeres Gespräch unter vier Augen führen.
    Sie schluckte noch einmal kräftig, dann schritt sie durch den langen, gewundenen Gang mit seinen vielen Stufen, die mal nach oben, mal nach unten führten, bis sie die Küche erreichte. Das war ein großer Raum, der bei der Zusammenlegung der zwei Häuser nachträglich angebaut

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