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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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jedes Stück Holz, Metall, Segeltuch, Seil und alles, was mit dem Meer, mit Schiffsfracht oder deren Vertrieb zu tun hatte, hergestellt, ausgebessert oder montiert wurde.
    Holz knarrte,Wasser tropfte, Schritte hallten bedrohlich wider, an den Mauern tauchten Schatten auf, die sich unablässig bewegten. Verursacht wurden diese Eindrücke von Licht, das von den sich ständig mit den Gezeiten hebenden oder senkenden Wellen eines Seitenkanals reflektiert wurde, von Wasser, das gegen die Steinmauern des Kais klatschte, vom Knarzen der Holzbalken. In der Gasse fingen sich die Geräusche der Schritte vorbeilaufender Passanten oder Lastenträger. Es herrschte ein entsetzlicher Gestank nach Flussschlamm und menschlichen Exkrementen.
    Der Junge weigerte sich, seinen Namen zu nennen. Er war dünn und bleich. Sein Alter ließ sich schwer bestimmen, lag aber wahrscheinlich zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren. Er hatte einen abgebrochenen Schneidezahn, und an seiner rechten Hand fehlte ein Finger. Er stand mit dem Rücken zur Wand und starrte sie mit großen Augen an, als erwartete er, angegriffen zu werden.
    »Ich schwör Ihnen gar nix!«, erklärte er ängstlich. »Wenn er mich erwischt, bringt er mich um.« Seine Stimme zitterte. »Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?« Er blickte erst Monk an und dann Orme. Scuff ignorierte er.
    »Dank Mr. Durbans Notizen«, antwortete Orme. »Wenn du uns wahrheitsgemäß antwortest, ist das zwei Shilling wert. Und danach vergessen wir, dass wir je mit dir geredet haben.«
    »Was soll ich denn sagen? Ich weiß doch nix!«
    »Du weißt, warum so wenige Jungen weglaufen«, belehrte ihn Monk. »Bei den Kleinen können wir das ja verstehen. Sie haben niemanden, an den sie sich wenden können, und sind zu klein, um sich selbst zu helfen. Aber was ist mit den Größeren, die schon vierzehn oder fünfzehn sind? Wenn du nicht zur See fahren willst, warum machst du dich nicht einfach aus dem Staub? Die Kunden verlassen das Boot schließlich auch jede Nacht, oder? Könntest du nicht einfach einem von ihnen folgen? Er kann euch doch nicht die ganze Zeit einsperren.«
    Der Junge bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Wir sind zwanzig Jungs oder mehr. Da können wir nich’ alle weglaufen! Ein paar haben Angst, ein paar sind krank, und ein paar sind noch richtige Babys. Wohin können wir denn schon gehen? Wer würde uns Essen geben, Kleider, einen sicheren Schlafplatz? Wer würde uns vor Phillips oder Kerlen wie ihm verstecken? An Land isses doch genauso schlimm!«
    »Aber jetzt bist du doch auch an Land und sicher vor ihm«, widersprach Monk. »Außerdem rede ich nicht über die Kleinen, sondern über die Jungs in deinem Alter.Warum verschwinden sie nicht einer nach dem anderen, bevor er euch an irgendein Schiff verkauft?«
    Das Gesicht des Jungen verzog sich zu einer bitteren Grimasse. »Sie meinen, warum hat er Fig, Reilly und die anderen umgebracht? Weil sie sich gegen ihn gewehrt haben. Das is”ne Lektion, verstehen Sie? Tut, was ich euch sage, und euch geht’s gut. Dann gibt’s Essen,’nen Platz zum Schlafen, Schuhe und’ne Jacke. Vielleicht sogar jedes Jahr’ne neue. Aber wenn ihr mir Ärger macht, dann wird euch die Kehle aufgeschlitzt.«
    »Weglaufen?«, erinnerte ihn Monk.
    Der Junge schluckte. Sein Gesicht verzerrte sich. »Wenn du wegläufst, jagt er dich gnadenlos und bringt dich um. Aber vorher tut er den Kleinen, die zurückgeblieben sind, was Schlimmes an, verbrennt sie an den Armen und Beinen, oder tut vielleicht was noch Schlimmeres. Ich wach in der Nacht auf und hör ihre Schreie … und dann merk ich, dass es bloß die Ratten sind. Aber im Kopf hör ich sie immer noch. Das is’ ja der Grund, warum ich mir wünsch, ich wär’ nich’ weggelaufen. Aber jetzt kann ich nich’ mehr zurück. Trotzdem: Schwören tu ich Ihnen nix! Das hab ich schon Mr. Durban gesagt, und Ihnen sag ich’s auch. Ihr könnt mich nich’ zwingen!«
    »Ich habe nie daran gedacht, das zu versuchen«, erwiderte Monk sanft. »Auch ich könnte mit einer solchen Bürde nicht leben. Ich möchte lediglich mehr wissen.« Er fischte die zwei Shilling aus seiner Tasche, die Orme dem Jungen versprochen hatte, und streckte sie ihm entgegen.
    Der Junge zögerte, dann riss er sie an sich. Monk trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen.
    Erneut zögerte der Junge.
    Monk machte noch mehr Platz.
    Mit einem gewaltigen Satz sprang der Junge an ihm vorbei, als hätte er panische Angst davor, festgenommen zu werden,

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