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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ich’s ja, aber da hat mir der Kerl den Arm gebrochen. Konnte zwei Monate lang nicht arbeiten. Wär’ fast verhungert. Billy ist dann ausgerissen, als er ungefähr fünf war. Ich hab später gehört, dass Phillips ihn bei sich aufgenommen haben soll. Der gab ihm regelmäßig Essen und ein Bett. Der Junge musste nicht frieren und wurde wohl auch nicht geschlagen, soviel ich weiß. Ich hab nix dagegen unternommen. Wie ich Durban schon gesagt hab, hatte Billy es ja besser als vorher.«
    »Was ist mit Moll geschehen«, fragte Monk, nur um sich im selben Moment zu wünschen, er hätte geschwiegen.
    »Ist auf die Straße gegangen, was sonst?«, murmelte der Schreiber. »Zog von einer Schlafstelle zur nächsten, immer auf der Flucht vor dem Kerl. Aber das hat ihr nix geholfen. Hat sie mit’nem Messer umgebracht. Dafür hat ihn Mr. Durban geschnappt. Wurde gehängt.« Er blinzelte seine Tränen weg. »Ich bin hin und hab’s mir angeschaut. Danach hab ich dem Henker Sixpence gegeben, damit er einen auf mich trinkt. Aber Billy hab ich nicht wieder gefunden.«
    Daraufhin erwiderte Monk nichts mehr. Was hätte er auch sagen können, das nicht banal und letztlich bedeutungslos gewesen wäre? Es musste viele Jungen wie Billy geben, die von Phillips benutzt wurden. Aber wäre ihr Leben ohne ihn um einen Deut besser – oder länger?
    Monk und Scuff saßen mitten im Lärm des Hafens, verzehrten jeder eine Pastete und verfolgten das Kommen und Gehen der Leichterschiffer über das Wasser. Wer ein solches Boot lenken wollte, musste eine Lehre durchlaufen, und Monk beobachtete die Männer mit einer gewissen Bewunderung. Die Art und Weise, wie sie in ihrem schwankenden Boot standen, es mit dem Ruder nach vorn stießen, ihr Gewicht neu ausbalancierten, sich vorbeugten und das Ruder wieder eintauchten, das verriet nicht nur Geschick, sondern wies eine besondere Form von Eleganz auf.
    Während die zwei aßen und aus Blechtassen Tee tranken, herrschte um sie herum ein beständiger Lärm. Allgegenwärtig war das Quietschen und Rasseln von Ketten, die durch Winden hochgezogen oder herabgelassen wurden. Die Rufe der Hafenarbeiter gellten durch die Luft, und auch die Schauermänner, die Fässer, Kisten und Ballen schleppten, blieben nicht stumm. Hin und wieder ertönten das Knallen von Peitschen und Hufgetrappel, wenn Pferde mit schweren Wagen anrückten, die beladen wurden, und dann das Poltern von Rädern auf Kopfsteinpflaster. Von einem anderen Kai wehten das reiche, exotische Aroma von Gewürzen und der schwere Geruch von Rohzucker herüber. Dazu der scharfe Salzgeruch, der abgestandene Mief von Seetang und hin und wieder der Gestank von ungegerbten Fellen.
    Ein-, zweimal blickte Scuff zu Monk auf, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Monk fragte sich, ob der Junge vielleicht nach Worten rang, um ihm zu verstehen zu geben, dass es für Jungen wie Billy bei Phillips immer noch besser war, als in irgendeinem Lagerhaus zu verhungern oder zu erfrieren.
    »Ich weiß«, sagte Monk abrupt.
    »Hä?« Scuff starrte ihn verdattert an.
    »Es ist nicht so einfach. Wir werden Jungs wie Billy nicht zum Reden bringen.«
    Scuff seufzte, um gleich darauf herzhaft in seine Pastete zu beißen.
    »Möchtest du noch eine?«, fragte Monk.
    Scuff zögerte. So viel Großzügigkeit war er nicht gewohnt und wollte sein Glück nicht aufs Spiel setzen.
    So griff Monk, der eigentlich schon satt war, zu einer Lüge: »Ich nämlich schon. Und wenn du mir eine bringst, kannst du dir ja auch noch eine kaufen.«
    »Oh. Hm.« Scuff ließ sich das Angebot eine Sekunde lang durch den Kopf gehen, dann stand er auf. »Hab nix dagegen.« Er streckte die Hand nach dem Geld aus. »Wollen Sie auch noch mal’ne Tasse Tee?«
    »Danke«, erwiderte Monk, »hab nix dagegen.«
     
    Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie einen Jungen fanden, der bereit war, mit ihnen zu sprechen. Schließlich war es Orme, dem das gelang. Sie befragten ihn in einer der engen Gassen dicht am Fluss. Dieser Durchgang war so eng, dass ein großer Mann mit ausgebreiteten Armen beide Hausmauern gleichzeitig berühren konnte, und weil die Dächer beinahe aneinanderstießen, kam man sich wie in einem Irrgarten aus lauter Tunnels vor. In der Gasse drängte sich ein Geschäft an das andere: Bäcker, Schiffsausrüster, Kerzendreher, Seilflechter, Tabakhändler, Pfandverleiher, Bordelle, billige Pensionen und Tavernen. Überall gab es Eingänge zu Werkstätten und Hinterhöfen, wo

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