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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nicht, Sir, und das ist die Wahrheit.« Orme blickte ihm mit klaren Augen ins Gesicht.
    »So weit reicht das also zurück?«
    Orme errötete. Völlig unbeabsichtigt hatte er sich selbst verraten. Und seine aufeinandergepressten Lippen und gestrafften Schultern signalisierten, dass er sehr wohl wusste, dass Monk im Bilde und dass ein Ausweichen nicht länger möglich war. Jetzt konnte ihm nur noch die Wahrheit oder eine vorsätzliche, wohl überlegte Lüge weiterhelfen. Allerdings war er keiner, der lügen konnte, außer vielleicht um sein Leben zu retten. Und wahrscheinlich fiele ihm selbst das noch schwer.
    Monk fühlte sich miserabel, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Wenigstens Durbans Lügen über seine Jugend wollte er für sich behalten. Orme mochte etwas davon ahnen, doch das war etwas anderes, als es zu wissen. Irgendwie konnte es immer noch eine Art von Geheimnis bleiben, wenn die Worte nicht laut ausgesprochen wurden. Jeder würde nur vermuten, dass der andere Bescheid wusste. Das Schweigen würdigte einen Teil der Privatsphäre eines Menschen.
    »Wann erfuhren Sie zum ersten Mal, dass es sich um eine persönliche Angelegenheit zwischen den beiden Männern handelte?« Monk formulierte seine Frage möglichst neutral, sodass es seinem Gegenüber erspart blieb, sich heiklen Themen zu stellen.
    Orme holte tief Luft. Sie waren umgeben von den Bewegungen und Geräuschen des Flusses: die Schiffe, die in der schnell hereinströmenden Flut schaukelten; das gegen die Steinstufen klatschende Wasser; das Sonnenlicht, das vom Wasser in beliebigen Mustern reflektiert wurde;Vögel, die über ihren Köpfen kreischend ihre Kreise zogen; das Scheppern von Ketten; das Knirschen von Ankerwinden; Rufe von Männern in der Ferne.
    »Vor ungefähr vier Jahren, Sir«, antwortete Orme. »Oder vielleicht fünf?«
    »Was ist da passiert? Und inwiefern unterschied es sich von dem, was Sie zuvor beobachtet hatten?«
    Orme verlagerte sein Gewicht. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich.
    Monk wartete.
    Orme schluckte. »Erst war es bloß Mr. Durban, der Fragen stellte, aber von einem Moment auf den anderen ist das Ganze außer Kontrolle geraten, und sie haben sich angebrüllt. Und bevor einer von uns dazwischengehen konnte, hat Phillips ein Messer gezogen – ein Mordsding, unheimlich lang, mit’ner gekrümmten Klinge – und weit ausgeholt.« Er beschrieb die Bewegungen mit seinem Arm. »Ich dachte schon, jetzt bringt er ihn um, aber Mr. Durban hat das kommen sehen und ist ausgewichen.« Er bog den Oberkörper zur Seite, eine Bewegung, die Eleganz und Kraft verriet. Was Orme beschrieb, wurde zu eindringlicher Wirklichkeit.
    »Fahren Sie fort«, drängte Monk.
    Orme blickte ihn unglücklich an.
    »Fahren Sie fort!«, befahl Monk. »Ganz offensichtlich hat er Durban nicht getötet. Was ist geschehen? Warum wollte er ihn umbringen? Hatte Durban ihn irgendeiner Tat beschuldigt? Eines weiteren Mordes an einem Jungen? Wer hat Phillips überwältigt? Sie?«
    »Nein, Sir. Das war Mr. Durban selbst.«
    »Gut. Wie? Wie konnte Mr. Durban einem Mann Einhalt gebieten, der mit dem Messer auf ihn losging? Hat er sich entschuldigt? Oder auf weitere Fragen verzichtet?«
    »Nein!« Die bloße Vorstellung war eine Beleidigung für Orme.
    »Also hat er sich gewehrt?«
    »Ja.«
    »Mit einem Messer?«
    »Jawohl, Sir.«
    »Er trug ein Messer bei sich und war gut genug, um einen Mann wie Jericho Phillips damit abzuwehren?« Monks Überraschung war seiner Stimme anzuhören. Er selbst hätte das nicht gekonnt. Zumindest traute er sich so etwas nicht zu. Aber vielleicht hatte er solche Dinge in dem seiner Erinnerung unzugänglichen Teil seiner Vergangenheit gelernt. »Orme!«
    »Ja, Sir! Er hat ihn überwältigt. Phillips war gut, aber Mr. Durban war besser. Er hat ihn an den Rand des Wassers gedrängt, und dann hat er ihn reingestoßen. Er wär’ fast ertrunken, der Kerl, und hatte eine Wut, dass er uns am liebsten alle umgebracht hätte – wenn er gekonnt hätte.«
    Monk fiel wieder ein, was ihm Hester über Phillips und sein Verhältnis zu Wasser und zu Kälte berichtet hatte. Hatte Durban darüber Bescheid gewusst? Und Orme womöglich auch? Er versuchte, im Gesicht des Polizisten zu lesen. Zu seiner Verblüffung erkannte er darin Widerstreben, eine bestimmte Art von Sturheit, von der er wusste, dass er sie nicht durchbrechen konnte – und auch nicht wollte, wie er im selben Moment begriff. Ein Teil der Persönlichkeit dieses Mannes, etwas, das ihm

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