Galgenfrist für einen Mörder: Roman
angeboren war, würde sonst Schaden erleiden. Außerdem entdeckte er in Ormes Zügen ein gewisses Mitleid und erkannte schlagartig, dass Orme nicht nur Durbans Erinnerung schützte, sondern auch ihn, Monk. Er wusste um Monks Verletzbarkeit und Bedürfnis, an Durban zu glauben. Orme versuchte, ihn vor einer Wahrheit zu bewahren, die ihn schmerzen würde.
Sie standen einander gegenüber, um sie herum der Geruch der Tide, unterhalb von ihnen das Wirbeln und Plätschern des Wassers.
»Was hat Sie darauf gebracht, dass sie sich kannten?«, wollte Monk wissen. Das war eigentlich nur ein Teil der Frage, mit dem er es Orme erlaubte, die ganze Antwort zu vermeiden, falls er das wollte. Monk war sich dessen sehr wohl bewusst, aber das wollte er sich nicht anmerken lassen.
Orme räusperte sich. Seine Anspannung ließ kaum wahrnehmbar nach. »Das, was sie gesagt haben, Sir. An die Worte kann ich mich nicht genau erinnern. Irgendwas, das sie beide wussten und im Gedächtnis behalten hatten.«
Monk dachte daran, zu fragen, ob sie einander lang gekannt hatten, vielleicht schon seit ihrer Jugend, entschied sich dann aber dagegen. Orme würde nur sagen, dass er diesbezüglich nichts gehört hätte. Monk verstand auch so. Die Antwort lag im Wasser, in der Kälte und in Phillips’ Hass. Hesters Prostituierte hatte nicht gelogen.
»Danke, Mr. Orme«, sagte er leise. »Ihre aufrichtigen Antworten waren sehr hilfreich.«
»Gern, Sir.« Endlich entspannte sich Orme.
Sie verließen den Kai und kehrten gemeinsam nach Wapping zurück.
In den nächsten zwei Tagen stattete Monk der Polizeiwache lediglich kurze Besuche ab, um sich über die Arbeit seiner Leute auf dem Laufenden zu halten. Scuff nahm er nur widerstrebend mit. Der Junge dagegen war begeistert. Monk hatte sich eingebildet, er wäre diskret und taktvoll gewesen. So schockierte es ihn doch einigermaßen, als er merkte, dass Scuff ihn durchschaut hatte. Entschuldigen konnte er sich nicht, zumindest nicht förmlich, doch er nahm sich vor, sich in Zukunft geschickter anzustellen. In der Tat waren Umsicht und Geschick geboten, denn Scuff war fest entschlossen, seinen Wert zu beweisen – und seine Fähigkeit, nicht nur auf sich selbst aufzupassen, sondern auch auf Monk.
Mehrmals kreuzten ihre Wege die Durbans. Monk hatte die Namen von beinahe einem Dutzend Jungen aller Altersgruppen in Erfahrung gebracht, die in Phillips’ Obhut gelandet waren. Unter ihnen befanden sich doch sicher zwei oder drei, die bereit waren, gegen ihn auszusagen.
Sie folgten den Spuren einer nach der anderen, beide Flussufer hinauf und hinunter, befragten Leute, die schon einmal verhört worden waren, stellten weitere Erkundigungen nach anderen möglichen Leuten an.
Irgendwann trat Monk in ein prächtiges altes Gebäude am Legal Quay. Ein Raum mit holzvertäfelten Wänden, glatt polierten Tischen und im Laufe von eineinhalb Jahrhunderten abgetretenen Bodendielen nahm ihn und Scuff in Empfang. Es roch nach Tabak und Rum, und fast glaubte Monk, uralte Streitigkeiten aus der langen Geschichte des Flusses in der abgestandenen Luft widerhallen zu hören.
Scuff blickte mit weit aufgerissenen Augen um sich. »Hier war ich noch nie«, flüsterte er. »Was machen sie denn hier?«
»Rechtsstreitigkeiten.«
»Hier drinnen? Ich dachte, das passiert im Gericht.«
»Seefahrtsrecht«, erklärte Monk. »Alles, was mit Schiffen zu tun hat, Gesetze zur Einfuhr und Ausfuhr, Gewichte und Maße, Rettung auf hoher See, solche Dinge eben. Und auch wer ausladen darf oder wie hoch die Zollgebühr ist.«
Scuff verzog angewidert die Mundwinkel. »Alles Diebe«, fauchte er. »Denen sollten Sie kein Wort glauben!«
»Wir suchen einen Mann, dessen Tochter gestorben und dessen Enkel verschwunden ist. Er arbeitet hier als Schreiber.«
Sie fanden den Schreiber, einen Mann in den Fünfzigern mit traurigem, verkniffenem Gesicht.
»Woher soll ich das wissen?«, murmelte er niedergeschlagen, als Monk mit der Befragung begann. »Mr. Durban hat mich dasselbe gefragt, und ich hab ihm dasselbe zur Antwort gegeben. Molls Mann hat am Hafen das Leben verloren, als Billy ungefähr ein Jahr alt war. Sie hat dann wieder geheiratet und ist an eine richtige Bestie von Mann geraten, der sie übel behandelt hat. Hat auch Billy geschlagen und dem armen Kerl die Knochen gebrochen.« Bei der Erinnerung an all das und an seine Machtlosigkeit wurde er kreidebleich, und alles Leben wich aus seinen Augen. »Und ich konnte nix tun! Versucht hab
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