Galgentochter
ihres Weges. Gustelies folgte ihr keuchend. «Jetzt renn doch nicht so. Ich bin doch kein Pferd, das im Galopp über den Marktplatz springt.»
Hella blieb stehen. Eine Magd mit einem Henkelkorb über dem Arm wich ihr aus, eine Handwerkerin grüßte freundlich. Das Mädchen aus der Garküche stand nahe am Brunnen und ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen. Überall drängten die Leute durch die Gänge mit den Buden und Ständen. Stimmengewirr lag wie Bienensummen in der Luft. Irgendwo lachte ein Weib, woanders hörte man eine Männerstimme fluchen.
Hella nahm Gustelies’ Hand und zog ihre Mutter hinter sich her. Froh war sie, als sie das Marktgetümmel hinter sich hatten. Sie gelangten zur Stadtmauer, verließen Frankfurt aber nicht durch das Mainzer Tor, sondern durch ein kleines Seitenpförtchen, welches dem Haus des Scharfrichters direkt gegenüberlag und nur selten benutzt wurde.
Das Henkershaus stand allein und in gehörigem Abstand zu den anderen Katen. Es war das einzige Haus, das aus Bruchsteinen gemauert und mit Dachplatten belegt war. Rechtwinklig an das Haus war ein Nebengebäude gebaut, dessen Fenster mit Lederhäuten verhangen waren.
«Ich war noch nie beim Henker», flüsterte Hella und drückte die Hand ihrer Mutter. «Man sagt, man beflecke sich, wenn man mit ihm Kontakt hat und ihm am Ende sogar noch die Hand gibt. Eigentlich gebe ich nichts auf solches Waschweibgeschwätz. Aber ein wenig unheimlich ist mir doch.»
«Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist», stellte Gustelies fest. «Unheimlich ist jeder, der täglich mit dem Tod zu tun hat.»
Dann schritt sie voran, schlug den Messinggriff am Scharfrichterhaus und wartete.
Der Mann öffnete selbst. Groß stand er vor ihnen, seine Brust so breit, dass es den Frauen nicht gelang, ins Innere des Hauses zu sehen. «Gott zum Gruße, Gustelies. Was ist, Richtersfrau?», wandte er sich an Hella.
«Die Leiche. Ich müsst’ sie noch einmal sehen. Mein Mann schickt mich.»
Der Scharfrichter fragte nicht, warum und wieso. Er nickte nur und trat aus der Tür. Für einen Augenblick konnte Hella durch den Flur bis in die Küche des Hauses sehen. Sie sah ein Mädchen davonhuschen, das ihr bekannt vorkam, aber sie kümmerte sich nicht weiter darum.
«Kommt mit», sagte der Scharfrichter.
«Wie? Wohin denn?», fragte Hella. Der Henker lachte auf. «Meint Ihr, ich habe die Leiche in meinem Haus? Teile vielleicht sogar mit ihr ein Bett?»
«Nein, nein, natürlich nicht», stammelte Hella, aber sie hatte tatsächlich angenommen, dass der Tote sich im Haus des Henkers befand.
«Hier im Nebengebäude ist sie.»
Der Scharfrichter riss eine Tür auf, setzte eine Fackel in Brand, steckte sie in die Halterung zurück und entzündete noch einige weitere.
«Tut mir leid, hier ist’s immer dunkel wegen der Lederhäute. Aber ich muss sie vor die Fenster hängen, sonst treiben die Buben ihren Schabernack mit meinen Leichen. Eine Zeitlang galt es als Mutprobe, bei Mondlicht in mein Nebengebäude zu dringen und wie ein Wolf zu heulen. Die halbe Vorstadt war wochenlang starr vor Angst. Jetzt sehe ich zu, dass alles gut verschlossen und abgeschirmt ist.»
Hella nickte und sah sich um. Hinter sich hörte sie Gusteliesnach Atem ringen. Vor ihr lag die Leiche. Der Scharfrichter hatte ein Brett auf zwei Holzböcke gelegt, darüber ein Tuch geworfen und den toten Gewandschneider aufgebahrt. Der lag mit geschlossenen Lidern, die Hände auf dem Bauch gefaltet und darin ein Kreuz haltend.
«Du bahrst ihn christlich auf, obwohl du noch nicht weißt, ob Mord oder Selbstmord?», fragte Hella.
Der Scharfrichter zuckte mit den Achseln. «Das ist Sache des Richters. Meine Sache ist es, die Achtung vor dem Tod zu wahren. So ist das.»
Er räusperte sich, entzündete zwei Kerzen und stellte sie neben den Leichnam. «Reicht das Licht? Braucht Ihr mich noch?»
Hella schüttelte den Kopf und sah zu ihrer Mutter, die sich dem toten Voss auf Zehenspitzen näherte. «Wie bist du zu Tode gekommen?», fragte diese leise den Gewandschneider.
«Dann gehe ich jetzt. Sagt Bescheid, wenn Ihr fertig seid. Ach ja, und stille sein müsst Ihr hier nicht, der da hört Euch nicht mehr. Ihr braucht ihm deshalb auch keine Fragen zu stellen. Jetzt erfahrt Ihr nur noch von ihm, was mit den Augen zu sehen ist.»
Er lachte kurz und scheppernd, dann ging er.
Gustelies schüttelte sich. «Diesen Mann kann wohl nichts schrecken!»
Sie zog ihren Umhang fester um sich, trat noch näher an die
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