Galgentochter
verschließen könne, dann gingen sie am Main entlang in Richtung Galgenberg. Hella konnte den Gedanken an den Tod nicht verdrängen.
«Ich habe geträumt», berichtete sie ihrer Mutter. «Ich hatte wieder diesen Albtraum, sah wieder den Säugling, seine blauen Lippen, die Abschürfungen um Mund und Nase.»
«Sei still», herrschte Gustelies sie an. «Wir wollten niemals wieder darüber reden.»
Ein altes Weib, das einen Korb auf dem Rücken trug und Reisig sammelte, sprach sie an: «Na, Bürgersfrauen, wollt Ihr den armen Leuten in der Vorstadt helfen und Nächstenliebe üben? Dann seid Ihr bei mir gerade richtig. Gebt mir einen Heller, damit ich ein bisschen Brot davon kaufen kann.»
Hella nestelte an der Geldkatze, die an ihrem Gürtel hing. Doch bevor sie das Geld in die ausgestreckte Hand legte, fragte sie: «Ist dir in den letzten Tagen hier etwas aufgefallen?»
Das Weib lachte und zeigte dabei einen zahnlosen Mund. «Ostern steht vor der Tür. Die Stadtleute kommen, um an uns ihre irdische Schuld zu begleichen. Einer brachte sogar kleine Kuchen her. Das ist immer vor Ostern und Weihnachten so, da gedenkt Ihr Bürger der Armen. Aber nicht um unseretwillen tut Ihr es, nein, es geht Euch dabei einzig um Euch.»
Hella senkte den Blick und errötete leicht. Die Alte hatte recht. Schnell legte sie das Geld in deren Hand. Gustelies aber ließ sich als Haushälterin eines Pfarrers von derlei Gerede nicht beeindrucken. «Willst du damit sagen, dass in den letzten Tagen noch mehr Städter hier waren?»
Die Alte nickte.
«Erzähl! Wer war es? Wie sahen sie aus? Was taten sie hier?»
Die Alte hatte das Geldstück in die Tasche ihres abgetragenen Kleides gesteckt und streckte erneut die Hand aus. «Gibst du mir, so geb ich dir!», sagte sie.
Jetzt kramte Gustelies in ihrer Börse, behielt aber das Geldstück in der Hand. «Also?»
«Am Sonntag kam einer aus der Stadt, lief hier am Mainufer herum. Zuerst dachte ich, er wolle zu den Hübschlerinnen, doch die beachtete er gar nicht. Er lief hin und her und lauschte jedes Mal, wenn die Glocken der Kirche läuteten.»
«Ein Mann?»
«Sag ich doch.»
«Wie sah er aus? Was für Kleidung trug er?»
«Wie er aussah? Wie ein Städter sah er aus. Das Haar schön geschnitten, der Bart ordentlich gestutzt. Grau waren seine Sachen. Aus feinstem Tuch. Der Umhang mit Pelz besetzt und die Mütze ebenfalls.»
Hella und Gustelies wechselten einen vielsagenden Blick.
«Trug er etwas bei sich?»
Die Alte zuckte die Achseln. «Woher soll ich das wissen? Niemand, der in die Vorstadt kommt, zeigt, was er bei sich hat. Angst haben die Leute vor uns und verbergen alles, was mehr als ein paar Heller wert ist.»
«Erinnere dich!», bat Hella. «Denk noch einmal nach: Trug er etwas bei sich?»
Die Alte runzelte die Stirn und tippte mit dem Zeigefinger der rechten Hand in ihre geöffnete linke. Gustelies verstand, seufzte und legte einen Groschen hinein.
Jetzt lächelte die Alte, zog die Stirn in Falten, tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. «Trug er etwas bei sich? Tat er das?» Es dauerte, bis ihre Erinnerung einsetzte, dann aber nickte sie: «Einen Beutel trug er über der Schulter. Ich wunderte mich darüber, weil es nicht die Art solcher Herren ist, einen Lederbeutel über der Schulter zu tragen. Braun war der Beutel. Dunkelbraun. Rindsleder, denke ich.»
«Und er lief die ganze Zeit am Ufer hin und her?»
«Als ob er auf jemanden wartete.» Die Alte nickte, streckte noch einmal die Hand aus, ließ sie aber wieder fallen, als sie Gustelies’ und Hellas Gesicht sah.
«Gott segne Euch», murmelte sie und trollte sich.
«Er war hier in der Vorstadt», wiederholte Hella. «Er hat auf jemanden gewartet. Wer könnte das gewesen sein, und was wollte der Gewandschneider von ihm?»
Gustelies zuckte mit den Achseln. «Den Beutel müssen wir finden. Vielleicht liegt darin die Antwort.»
Aufmerksam liefen die beiden Frauen das Mainufer ab, doch sie fanden nichts. Danach gingen sie weiter zum Galgen, durchsuchten jeden Busch und jeden Strauch, suchten gründlich hinter dem Mäuerchen, aber da war kein Lederbeutel, da war überhaupt nichts.
Nachdenklich ließ sich Gustelies auf einen Stein am Weg sinken und meinte schließlich: «Ein Lederbeutel ist etwas, das nicht jeder in der Vorstadt sein Eigen nennen kann. Was würdest du tun, wenn du eine arme Wäscherin wärst, ein Abdecker, eine Hübschlerin oder ein Abortreiniger, und du fändest einen solchen Beutel?»
Hella
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