Galgentochter
Leiche heran und betrachtete sie aufmerksam.
«Eigentlich sieht er ganz friedlich aus», stellte sie fest. «Und ich dachte früher, als ich noch ein Mädchen war, wenn man lange genug in das Gesicht eines Gemordeten schaut, erkennt man an seinen erstarrten Zügen den Mörder.»
Hella lachte. «Ich wette, das hat Pater Nau dir eingeredet. Dass die Fratze des Teufels zu sehen ist, wenn man nur lange genug hinsieht, nicht wahr?»
Gustelies nickte und lächelte zaghaft. «Ich glaube, ich werde langsam wunderlich. Nicht weiter erstaunlich, wenn man Tag und Nacht mit diesem wirren Pater, der mein Bruder ist, zusammen sein muss.»
Dann krempelte sich Gustelies die Ärmel hoch und sah auffordernd zu ihrer Tochter. «Los. Eine Leichenschau wird immer am nackten Körper vollzogen. Das hat mir dein Vater beigebracht.»
«Ich kann ihn nicht anfassen. Ich kann es einfach nicht. Mich schüttelt es schon, wenn ich nur daran denke!» Hella verstummte, legte sich eine Hand auf den Mund, dann aber flüsterte sie: «Dass es dich nicht vor Leichen gruselt, kann ich gut verstehen. Den ganzen Tag hantierst du mit toten Tieren, schneidest ihnen gar die Herzen aus der Brust, stichst ihnen die Augen aus, pökelst ihre Zungen. Du bist das gewohnt, Mutter.»
Gustelies verzog das Gesicht: «Das kann man nicht vergleichen. Überhaupt nicht vergleichen kann man das. Ein Braten ist ein Braten und kein Lebewesen. Eine Ochsenzunge ist ein Leckerbissen und kein Leichenteil.»
Hella bemerkte, dass sie ihre Mutter gekränkt hatte, und strich ihr entschuldigend über den Arm.
«Der Tod gehört zum Leben, Hella. Von deinem Vater und dem Leichenbeschauer habe ich viel gelernt. Wer Angst vor dem Tod hat, hat nur Angst vor der Dunkelheit in der eigenen Seele.»
Dann stieß sie ihre Tochter mit dem Ellbogen zur Seite und entfernte beherzt den Verschluss, der den Umhang hielt.
«Jetzt das Wams», ordnete Gustelies an, drückte ihrer blassen Tochter die Zipfel des Umhangs in die Hand und durchsuchte die Kleidung des Toten langsam und gründlich. Sie brauchte nicht lange, bis sie den Rosenkranz gefunden hatte. Er steckte in der oberen Tasche der Überjacke, direkt über dem Herzen. Sorgfältig betrachtete sie die Perlen aus rosa Alabaster, das kleine Kreuz aus Holz, das an seinen Enden in Silber gefasst war.
«Den muss ich im Licht betrachten», sagte sie und legte ihn einstweilen zur Seite. Dann untersuchte sie die Beinkleider und die Stiefel des Toten, drehte ihn sogar, während Hella sich dabei die Augen zuhielt, doch sie fand nichts, was ihr Aufschluss über das Ende des Gewandschneiderlebens gab.
«Meinst du wirklich, es ist nötig, den Gewandschneider nackt zu betrachten?», fragte Hella, und Gustelies erkannte am Zittern ihrer Stimme, dass ihr ganz und gar unbehaglich war.
«Nein. Wohl nicht. Der Stadtmedicus hat ihn sich angesehen. Gut, er ist ein Stümper, unser Arzt, und sieht nur, was man ihm vorher beschrieben hat, aber der Scharfrichter ist ein Mann mit Erfahrung. Gäbe es da etwas, er hätte uns darauf hingewiesen.»
Hella atmete auf. Gustelies betrachtete ihr blasses Gesicht und schickte sie vor die Tür: «Geh nach draußen, setz dich auf eine Bank. Ich mach hier alles fertig.»
Als der Leichnam wieder ordentlich und mit gefalteten Händen auf dem Holztisch lag, atmete Gustelies vor der Tür so tief ein und aus, als käme sie gerade aus einer Gruft.
«Du kannst sagen, was du willst. Der Tod hat etwas Beängstigendes an sich, oder?», fragte Hella, deren Gesicht allmählich wieder Farbe bekam.
Gustelies schüttelte den Kopf. «Finde ich nicht. Und ich verstehe noch nicht einmal, dass du dich fürchtest. Der Tod, das ist das Tor zur ewigen Seligkeit. Eigentlich müssten wir doch alle unseren Tod herbeisehnen. Aber wir tun es nicht. Im Gegenteil. Wir fürchten uns davor. Als ob wir tief in unserem Inneren nicht an Gottes Himmelreich glauben können.»
Sie hielt den Rosenkranz in die Sonne und betrachtete sorgfältig Perle für Perle. «Wie zart und schimmernd dieser Rosenkranz ist», stellte sie bewundernd fest. «Es muss eine Freude gewesen sein, damit das Ave-Maria zu beten.»
Hella zog die Stirn in Falten. Sie fröstelte noch immer. «Lass uns weggehen von diesem schauerlichen Ort», bat sie. «Da finde ich ja den Galgen noch ansprechender.»
Gustelies lachte leise. «Und genau dorthin gehen wir jetzt. Wir suchen einen ledernen Beutel.»
Sie sagten dem Scharfrichter, dass sie fertig seien und er das Gebäude wieder
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