Galgentochter
Hals, dann wusste er auf der Stelle, was zu tun war.
In der Nacht schlief Hella schlecht. Immer wieder schreckte sie aus dunklen Träumen empor. Einmal weckte sie sogar Heinz, als sie um sich schlug. Da nahm er sie an seine Brust und legte die Arme um sie, bis sie ganz ruhig und in größter Geborgenheit wieder eingeschlafen war.
Den ganzen Sonntag über blieb sie unruhig. In der Kirche hörte sie Pater Nau nur halbherzig dabei zu, wie er von der Kanzel verkündete, dass die Erde ein Jammertal und das Leben ein Graus sei, aß wenig vom Braten ihrer Mutter, während Heinz die mit Backpflaumen gefüllte und in Rotwein geschmorte Rinderkeule so sehr genoss, dass er jeden Bissen mit einem verzückten «Mmmmh!» begleitete. Gustelies hatte vor Aufregung ganz rote Wangen. Obwohl sie in der Tiefe ihres Herzens eine Kämpferin für die Frauenwar, freute sie sich doch ganz besonders über das Lob von Männern, wenn es denn ihre Kochkunst betraf.
«Das Bratenstück habe ich bei den Fleischbänken gekauft. Der Metzger meines Vertrauens hat seine Bank in der letzten Reihe, ganz links. Auch die Jutta Hinterer kauft dort. Die Pflaumen sind noch vom letzten Jahr. Ich weiche sie nicht in Wasser, sondern in Rotwein ein, gebe ein bisschen Zimt dazu und, wenn Pater Nau mit dem Wirtschaftsgeld großzügig war, ein paar Nelken …»
Hella sah ihre Mutter an, doch sie hörte nichts von dem, was sie sagte. Ihre Gedanken waren ganz woanders.
«Wann ist die nächste Hinrichtung?», fragte sie und unterbrach Gustelies mitten in der Beschreibung ihrer Soße.
«Wie?» Heinz Blettner sah seine Frau vorwurfsvoll an.
«Die nächste Hinrichtung. Wann ist sie?»
«Morgen. Eigentlich ist der Freitag der Hinrichtungstag, weil donnerstags die Urteile verkündet und diese am nächsten Tag vollstreckt werden. Jetzt gab es aber einen Aufschub, weil der Scharfrichter die Balken des Galgens neu ölen musste. Deshalb morgen.»
«Heißt das, der Scharfrichter war jeden Tag auf dem Galgenberg?», fragte Hella weiter.
«Der Scharfrichter wird sich nicht selbst die Hände schmutzig machen. Er hat wohl den Stöcker geschickt.»
«Hmm», machte Hella und versank erneut in ihren Gedanken. Später dann, auf dem Heimweg, sagte sie zu ihrem Mann: «Ich würde gern mitkommen zu dieser Hinrichtung.»
«Du? Du hältst dich doch sonst von Volksspektakeln dieser Art fern.»
«Trotzdem. Der Tod gehört zum Leben. Ich möchte mitkommen.»
Heinz Blettner sah seine Frau noch einmal nachdenklich an. Dann nickte er.
Am nächsten Morgen war Richter Heinz Blettner gerade dabei, seine Amtsrobe, den schwarzen Anzug und den roten Mantel mit dem Stadtwappen, anzuziehen, um darin den Delinquenten zur Hinrichtungsstätte zu führen, als jemand an die Haustür wummerte.
«Ich habe es geahnt», flüsterte Hella, rannte die Treppe hinunter und riss die Tür auf.
Der Scharfrichter stand davor. «Gelobt sei Jesus Christus.»
«In Ewigkeit. Amen», erwiderte Hella und wandte sich um, denn hinter ihr stürzte der Richter mit wehendem Mantel die Treppe herab.
«Was ist los, Henker?»
«Unter dem Galgen liegt ein Toter», sagte der Scharfrichter mit unbewegter Miene. «Die Hinrichtung kann heute nicht stattfinden. Wir brauchen die Büttel, um die Menschen dort wegzuhalten. Der Stöcker allein schafft es nicht. Das Mainzer Tor haben wir schon schließen lassen.»
Hella wurde blass und schlug sich die Hand vor den Mund. Heinz Blettner legte seinen Arm um sie. «Kennst du den Toten, Henker?», fragte der Richter.
Der Scharfrichter zuckte mit den Achseln. «Woher soll ich die Frankfurter kennen, wenn ich doch in der Vorstadt wohne, he? Ein Mann ist’s. Nicht alt, nicht jung. Nicht dick, nicht dünn. Nicht arm, nicht reich. Mehr weiß ich nicht.»
«Gut. Dann geh zum Rathaus. Sag, dass ich dich schicke. Die Büttel sollen kommen und das Volk vom Galgen weghalten. Dann reite sofort zurück. Ich werde ebenfalls gleich kommen.»
Als der Scharfrichter fort war, rief Blettner seinen Knecht und befahl ihm, das Pferd zu satteln.
Seine Frau schickte der Richter mit einer Nachricht zum Stadtmedicus. Als die überbracht war, überlegte Hella eine kleine Weile und ging schließlich in den Hirschgraben zum Haus des Gewandschneiders.
Die Vossin öffnete sofort, als hätte sie die ganze Zeit hinter der Tür gestanden. «Habt Ihr etwas von meinem Mann gehört?», fragte sie noch vor dem Gruß.
Hella schüttelte den Kopf. «Nein. Fragen wollt’ ich nur, ob er wieder aufgetaucht
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