Galgentochter
«Glotzt nicht so dumm. Er hat den Meinen auf dem Gewissen. Viel zu wenig ist das Brandmarken für so einen. Hängen müsste er, wenn es einen gerechten Gott im Himmel gibt.»
Diese Worte brachten Bewegung in die Menge. «Jawohl», schrie ein Weib und reckte kampflustig den Busen. «Betrogen hat er uns alle!»
Ein Mann, der neben ihr stand, lachte lauthals. «Weib, dich wohl nicht. Siehst nicht aus wie eine, die die Truhe voll mit englischem Tuch aus Polen hat.»
Das Weib fuhr herum und stemmte die Fäuste in die Hüften.
«Ach? Aber Ihr tragt gutes Tuch? Es geht nicht um mich oder Euch, sondern um den Betrug.»
Der Mann winkte ab, aber an anderer Stelle wurde es unruhig. Eine Magd zerrte eine Bürgersfrau am Umhang. «Sie ist eine von denen, die er geprellt hat. Ja, meine Herrin. Oft genug war der Amedick bei uns, hat der Herrin die Hand geküsst und ihr Schmeicheleien gesagt. So lange, bis sie gekauft hat bei ihm. Jetzt steht sie da im Unglückstuch. Los, Herrin, ziert Euch nicht. Geht ganz nach vorn und spuckt dem Betrüger ins Gesicht.»
Ganz wild war die Magd, ihr Haar hing wirr, die Augen funkelten. Da holte die Herrin aus und versetzte der Rasendeneine Maulschelle. Wie erstarrt stand die Magd und brach gleich darauf in schrilles Heulen aus.
Gustelies und Hella standen inmitten des Getümmels. «Schade ist es doch um ihn», stellte Gustelies leise fest. «Er ist ein schöner Mann. Bald ist er gebrannt und die Schönheit dahin. Hach, und wie er mit den Weibern geredet hat! Als wäre eine jede eine Prinzessin.»
Hella verkniff sich ein Prusten. «Ganz recht, Mama. Jedem Weib hat er Schmeicheleien gesagt. Wer seine Gunst an alle verteilt, zeichnet keine aus.»
Gustelies seufzte. «Recht hast du, Kind. Aber schade ist es doch.»
Hella wandte ihre Blicke von der Mutter weg. Sie mochte es nicht, wenn Gustelies Männer betrachtete. Gustelies war ihre Mutter. Andere Bedürfnisse als Essen, Trinken, Atmen und Schlafen sollte sie nicht haben. Und überhaupt: Sie war Witwe! Sollte sie nicht das Andenken an ihren Mann in Ehren halten?
Gustelies schien Hellas Gedanken gelesen zu haben. Sie lächelte, und dieses Lächeln war von Wehmut gezeichnet.
«Ich bin zwar eine Witwe, aber auch eine Witwe ist ein Weib!», sagte sie.
«Nicht, Mama. So etwas will ich nicht wissen.»
«Du bist alt genug, Hella. Musst langsam begreifen, dass ich mehr bin als eine Mutter, die außer Kochen und Backen keine Interessen hat. Wer, sag mir, nimmt mich in den Arm? Wer tröstet mich? Wer begehrt mich?»
Hella schluckte, wiederholte leise: «So etwas will ich nicht wissen.»
Jetzt lachte Gustelies auf, und in diesem Lachen klang Enttäuschung mit: «Selbstsüchtig bist du, Hella. Ich soll sorgen für dich und deine Bedürfnisse, soll mir jederzeitalle deine Kümmernisse anhören. Aber für meine Bedürfnisse hast du kein Ohr.»
«Du hast Jutta, deine Freundin», wollte Hella sagen, doch in diesem Augenblick war auf den Balkon des Römers einer der Stadtpfeifer getreten, setzte die Schalmei an die Lippen und blies. Sofort verstummte das Volk und starrte auf die große, mit Eisen beschlagene Tür des Römers.
Die öffnete sich, und heraus traten als Erste zwei Büttel, hernach der jüngere Bürgermeister und Vorgesetzte des Richters. Dann kam Heinz Blettner, angetan mit der Amtsrobe, das Gerichtszepter in der Hand. Danach zwei Stadtknechte mit umgehängten Hakenbüchsen. Hinter ihnen, gefesselt an Händen und Füßen, der Zunftmeister Amedick, gefolgt vom Scharfrichter und dem Stöcker, seinem Gehilfen. Zum Schluss liefen der Stadtmedicus, ein Schreiber und Pater Nau.
«Jetzt sieh ihn dir an, deinen Schönling, Mama. Nur eine Nacht im Kerker hat es gebraucht, um ihm den Glanz zu nehmen. Das Haar hängt in Strähnen, die Haut ist fahl, die Augen verschattet.»
Gustelies schaute verärgert. «Meinst du, du würdest aussehen wie das blühende Leben, wenn dir gleich ein glühender Eisenstab durch die Backen gerammt würde?»
Hella wollte etwas erwidern, doch als sie sah, dass Gustelies’ Lippen zitterten, hielt sie den Mund.
Das Volk war unterdessen aus seiner Erstarrung erwacht. Während die Stadtknechte eine Gasse durch die Menge trieben, brüllte die Menge all ihren Zorn hinaus. «Nieder mit den Zünften», schrien ein paar Handwerksgesellen. «Lange genug haben sie die Stadt regiert. Es wird Zeit, dass das Volk mitbestimmt.»
Hella verzog das Gesicht: «Seit Dr. Luther und der LandgrafPhilipp versuchen, die lutherische
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