Galgentochter
Menge. «Gebt’s ihm. Na, los.»
Der Scharfrichter reckte sich, sah mit wachen Augen und strengem Blick über die Menge, die sich furchtsam duckte und halb entsetzt, halb fasziniert aufstöhnte.
«Jetzt mach schon», drängte Richter Blettner, der nebendem Scharfrichter stand. «Wie lange soll das Spektakel denn noch dauern?»
Auch der Zweite Bürgermeister nickte. Da hielt der Henker den Stab zurück ins Kohlebecken, bis die Spitze rot glühte. Dann nahm er das Eisen und packte Amedick am Scheitel. Der schrie wie am Spieß, sodass er schließlich von einem Stadtknecht gezüchtigt werden musste. Endlich war er ruhig, und der Henker drückte ihm das Eisen durch die rechte Backe. Es zischte, Rauch stieg auf und mit ihm der Geruch nach verbranntem Fleisch. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Die Frau des Zunftmeisters fiel in Ohnmacht, doch keiner der Umstehenden half ihr auf.
Schon steckte der Scharfrichter den Stab in einen Eimer mit kaltem Wasser. Die Menge starrte auf Amedick, auf das schwarze Loch in seiner Wange. Der Mann wimmerte leise vor sich hin, war noch fahler geworden, die Augen noch verschatteter.
Unterdessen suchte der Scharfrichter in seiner Rolle nach einem Stab, an dessen Ende das F für die Stadt Frankfurt prangte. Er nahm diesen Stab und tat ihn ins Kohlebecken, dass er glühte.
Inzwischen hielt der Stöcker dem Amedick einen Becher Wasser an die aufgebissenen Lippen, doch Amedick heulte wölfisch auf, als das kalte Wasser mit der frischen Brandwunde in Berührung kam. Da zuckte der Stöcker mit den Achseln, besah den Becher und leerte ihn selbst.
Richter Blettner trat von einem Bein auf das andere. «Mein Gott, wie lange dauert das denn noch?», fragte er leise. Der Stadtmedicus, der auch vorn neben dem Halseisen stand, fügte hinzu: «Wenn der Henker noch lange braucht, ist der Zunftmeister hin und die ganze Straferei umsonst.»
Richter Blettner maß den Stadtmedicus mit einem strengen Blick. Gern hätte er etwas erwidert, doch Pater Nau, der als Seelsorger ebenfalls dabei war, meinte: «Die Welt ist ein Jammertal und das Leben ein Graus.»
Dann ging er zu dem Mann im Halseisen und sprach ihm Trost zu, während der Stadtmedicus in seiner Tasche nach dem hochprozentigen Alkohol kramte, den er dem Geschundenen später auf die Brandwunden tröpfeln wollte.
Der Scharfrichter war so weit. Der Stab mit dem «F» am Ende glühte rot.
Er machte den Stadtknechten ein Zeichen, die sich links und rechts neben Amedick stellten. Der Scharfrichter prüfte, ob der dicke Lederhandschuh richtig saß, trat zum Zunftmeister und packte ihn erneut am Schopf.
«NEIIIIIIIIIIIIIIN», schrie der Mann gellend. «NEIIIIIIIIIIN!»
Der Scharfrichter ließ das Eisen sinken, die Menge starrte mit offenen Mündern.
«Ein Feigling ist er, der Amedick», schrie die Vossin und schleuderte ein faules Ei, welches oberhalb des Zunftmeisterkopfes an den Steinen zerschellte. «Betrügen kann er, aber seine Strafe kann er nicht ertragen. Feigling!»
Jutta Hinterer rümpfte die Nase. «Ich weiß gar nicht, was die Leute immer zu meckern haben. Die Vossin da vorn ist doch nur froh, dass ihre Tändelei mit dem Altgesellen unentdeckt geblieben ist, sie ihren Alten auf einfache Weise losgeworden ist und von nun an das Glück der Erde auf sie wartet. Heuchlerisch ist das. Pfui!»
Gustelies wandte sich zu ihrer Freundin. «Die Menschen sind so. Ehe sie am Unglück eines anderen mitleiden, ergreift sie große Erleichterung, dass die eigenen Sünden im Verborgenen bleiben und das tägliche Unglück kleiner istals das des Menschen im Halseisen. Sie erleben jede Hinrichtung, jede Verstümmelung als Zeichen Gottes, der ihnen Aufschub gewährt. Sie wissen schon, dass jeder von ihnen irgendwann dort stehen könnte. Aber noch ist es nicht so weit, und deshalb schreien sie.»
«Und die, die sich am meisten hervortun, sind die, die den meisten Dreck am Stecken haben.» Die Hintererin schüttelte den Kopf, wandte sich ab. «Ich gehe, hab genug gesehen. Eine richtige Hinrichtung ist mir lieber als dieses Gehampel da vorn. Außerdem widern mich die vielen Selbstgerechten hier an, die schon immer gewusst haben wollen, dass es mit Amedick kein gutes Ende nehmen würde.» Die Geldwechslerin spuckte aus, nickte Gustelies und Hella zu und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge.
«Ich habe auch genug», stellte Hella fest und fasste ihre Mutter beim Arm. «Lass uns gehen!»
Kapitel 16
Das Mädchen hastete durch den Schnee.
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