Galgentochter
neben dem Galgen zu verbringen.»
Der Richter holte tief Luft, doch Hella legte ihm eine Hand auf den Arm. «Lass ihn», flüsterte sie. «Er hat Angst.Mag sie auch unberechtigt sein, so leidet er doch darunter.»
Der Richter klappte den Mund zu, warf dem Knecht einen verächtlichen Blick zu. «Gut», sagte er. «Ist es dir angenehm, wenn schon nicht zum Galgen, so zum Büttel zu gehen und ihn auf den Galgenberg zu schicken, indem du ihm ein Schreiben von mir überbringst?»
Der Knecht atmete erleichtert aus, dann nickte er. «Danke, Herr, Ihr seid sehr gnädig. Danke, dass ich nicht dort hinaus muss an diesen gräulichen Ort.»
Der Richter brummte, setzte das Schreiben auf, versiegelte es und übergab es dem Knecht. Er löschte alle Lichter im Haus, sah noch einmal nach, ob das Herd- und das Kaminfeuer gut abgedeckt waren, dann ging er zu Hella in die Schlafkammer, tauschte seine Kleider gegen den Nachtrock aus und legte sich zu ihr ins Bett.
«Was denkst du?», fragte seine Frau. «Schon der dritte Tote, der unter dem Galgen gefunden wird, an dem ein Hund hängt. Glaubst du jetzt an Mord? Meinst du, der Torwächter hat recht?»
Der Richter antwortete nicht.
«Hast du mich gehört, Heinz?» Hella drehte sich zu ihrem Mann. Der lag, die Augen starr zur Decke gerichtet, die Arme unter dem Kopf verschränkt.
Leise sagte er: «Ich habe keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat, Hella. Aber ich fürchte, es kommen schreckliche Zeiten auf uns zu.»
Ganz leise hatte er gesprochen. So leise und mutlos, dass Hella sich wieder auf den Rücken drehte, ebenfalls die Arme unter dem Kopf verschränkte und zur Decke hinaufsah, die von einem schmalen Streifen Mondlicht erhellt war.
Kapitel 18
Das Mädchen trug den Topf vor sich, als hielte es eine Schüssel mit heißem Öl. Den Kopf hatte sie abgewandt, sodass sie das mit einem Leinentuch bedeckte Menschenfett nicht riechen konnte.
Sie lief eilig, wollte den Topf so schnell wie möglich loswerden. Als sie im Häuschen der Hebamme angelangt war, stellte sie den Topf laut knallend auf den Küchentisch.
Die Hebamme, die auf der Küchenbank geruht hatte, wurde wach, sah auf den Topf, dann in das Gesicht des Mädchens.
«Habe ich dich erschreckt?», fragte sie und zeigte auf den Topf.
Das Mädchen nickte.
Die Hebamme rappelte sich hoch, klopfte neben sich auf die Bank. «Setz dich zu mir.»
Das Mädchen gehorchte, vermied es jedoch, den Topf mit dem Menschenfett anzusehen.
«Wenn der Mensch stirbt, gleichgültig, ob von selbst oder durch den Henker, dann fliegt seine Seele in den Himmel. Der Leib allein ist sterblich, verwest und verfällt in der Erde. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. So ist es doch, nicht wahr?»
Das Mädchen sah vor sich hin und zeigte keinerlei Regung.
«Was geschieht also, wenn ein Menschenleib tot ist? Erzerfällt. Würmerfraß. Mehr bleibt nicht. Der Henker, der auch der Arzt der kleinen Leute ist, kocht aus manch totem Leib das Fett heraus, anstatt es den Würmern zu überlassen. Dieses Fett taugt hervorragend als Grundlage für Salben. Es zieht sehr schnell in die Haut ein, sorgt dafür, dass die guten Säfte ins Fließen kommen, die schlechten versiegen. Verstehst du?»
Das Mädchen sah hoch: «Was geschieht mit dem Wesen des Toten?»
«Willst du wissen, ob mit dem Menschenfett etwas von dem Toten in den Körper dessen übergeht, der das Fett benutzt?», fragte sie.
Heftiges Nicken war die Antwort.
«Hmmm», machte die Hebamme und schürzte die Lippen. «Eigentlich ist das nicht möglich, denn die Seele – ich sagte es schon – und damit die Gedanken haben den Körper längst verlassen, harren im Himmel oder in der Hölle auf ihr weiteres Schicksal. Nur der Leib, nichts als der nackte Leib bleibt, um zu faulen und zu zerfallen.»
Jetzt sah das Mädchen zu dem Topf, stieß leicht mit dem Finger dagegen.
«Kann es Sünde sein?», fragte die Hebamme. «Einen lebenden Menschen mit dem Fett eines toten zu heilen?»
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
Die Hebamme stand auf. «Na also», sagte sie. «Alles, was in diesem Haus geschieht, mein Kind, ist gottgefällig. Da kannst du ganz sicher sein.»
Die Hebamme trat zum Küchenfenster, das auf den Garten hinausging. Sie winkte das Mädchen zu sich, deutete mit der Hand auf einen abgegrenzten Bereich, den sie das Mädchen bisher nicht hatte betreten lassen.
«Schau», sagte die Hebamme. «Dort wächst Alraune. Diekleine Pflanze mit den sternförmigen violetten Blüten gilt
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