Galgentochter
nickte.
Plötzlich fiel die Abendsonne durch die schmalen Fenster der Apsis und verlieh dem Altar einen goldenen Schein. Ganz still saß das Mädchen während der Predigt und ließ die Sonnenstrahlen nicht aus den Augen, denn sie schienen ihr wie Zeichen. Zeichen dafür, dass das, was sie manchmal dachte und wünschte, sich eines Tages erfüllen und Gott ihr verzeihen würde.
«Du könntest wenigstens die Lippen bewegen, wenn du schon nicht mitsingen kannst», nörgelte die Hebamme, die neben ihr saß.
Erst als das Vaterunser gebetet wurde, kam Leben in das Mädchen. Nach jeder Wortgruppe zuckte sie zusammen, als hätte sie einen Schlag erhalten. Dann begann sie zu zittern, saß wie erstarrt, die großen, leicht hervorstehenden Augen auf die Statue der Jungfrau Maria gerichtet.
Nach dem Gottesdienst betrat der Priester den Beichtstuhl. «Warte hier auf mich», befahl die Hebamme. «Wenn ich fertig bin, gehst du hinein.»
Das Mädchen setzte sich auf eine nahe Kirchenbank und betrat wenig später den Beichtstuhl, als ihn die Hebamme mit zerknirschtem Gesicht verlassen hatte.
Das Mädchen bekreuzigte sich, kniete nieder, hielt sein Gesicht vor das Gitter und schwieg. Ihre Unterlippe zitterte. Sie öffnete den Mund, wollte sprechen, doch nur ein Krächzlaut erklang.
Der Priester sah sie an, machte aufmunternde Zeichen, doch noch immer sprach das Mädchen die Begrüßungsformel nicht.
Der Priester war es, der schließlich «Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen» sagte und gleich darauf fortfuhr: «Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.»
Er schaute auf das Mädchen, sah die Tränen, die ihr sanft und perlengleich über das Gesicht flossen.
«Warum sagst du nichts? Bekenne deine Sünden!»
Das Mädchen schwieg, machte Anstalten, aus dem Beichtstuhl zu fliehen. Der Priester sah sie mit schiefgelegtem Kopf an. «Halt, bleib da. Wenn du nicht sprechen kannst oder willst, so müssen wir uns etwas anderes ausdenken», stellte er fest.
Das Mädchen nickte, lächelte ganz zaghaft.
«Hmm», überlegte der Kirchenmann. «Wie kann ich dann von deinen Sünden erfahren?»
Das Mädchen sah ihn hilflos an.
Dann begann der Priester, ihr Fragen zu stellen: «Hast du gelogen?»
Das Mädchen nickte.
«Wie oft?»
Das Mädchen hob sechs Finger.
«Hast du gestohlen?»
Das Mädchen verneinte.
«Betrogen? Deines Nachbarn Haus oder Gut oder der Nachbarin Mann begehrt? Hast du geflucht und Gottes Namen beschmutzt? Hast du Unzucht getrieben oder unzüchtige Gedanken gehabt? Hast du verleumdet oder beleidigt?»
Immer wieder schüttelte das Mädchen den Kopf.
Als sie fertig waren, fragte der Priester. «Soll ich für dich die Worte des Reuegebetes sprechen?»
Diesmal nickte das Mädchen.
«Ich bereue, dass ich Böses getan und Gutes unterlassen habe. Erbarme dich meiner, o Herr. Amen.»
Der Priester schlug das Kreuzzeichen, das Mädchen tat es ihm nach. Dann fuhr er fort: «Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.»
Der Priester trug dem Mädchen auf, in aller Stille zehn Rosenkränze zu beten und am Abend zu fasten.
Das Mädchen verneigte sich und ging aus dem Beichtstuhl hinaus. Vor dem Altar kniete sie nieder, faltete die Hände und sah den Gekreuzigten mit solch brennenden Augen an, dass die Hebamme erschrak.
«Hast du nicht gebeichtet?», raunte sie leise. Das Mädchen schüttelte hilflos den Kopf.
«Als ich den Priester sah, konnte ich kein Wort sprechen. Ich habe es versucht, aber es ging einfach nicht.»
Die Hebamme strich ihr sanft über die Wange. «Die Erinnerung an den anderen Priester. Sie war es, welche dir die Sprache geraubt hat, nicht wahr?»
Das Mädchen nickte. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Die Hebamme strich wieder über ihre Wange. «Ich weiß, dass du ein guter Mensch sein möchtest. Obwohl das Leben selbst nicht gerade gut mit dir umgegangen ist.»
Sie überlegte. «Vielleicht bitten wir den nächsten Bettelmönch, der an unsere Tür klopft, dass er deine Sünden aufnotiert. Dann kannst du dem Priester beim nächsten Mal das Notat übergeben und musst nicht mit ihm sprechen.»
«Schreiben könnt’
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