Galgentochter
Seit sie in das Haus des Pfarrers gekommen war, hatte sie nur wenige Menschen gesehen. Damals, als ihr Kind gestorben war, war die Angst vor den Menschen in ihr geboren worden.
Sie seufzte, schmiegte sich an den Busch, fürchtete sich vor den Menschen und hatte doch zugleich Sehnsucht nach ihnen. Plötzlich hörte sie die Hebamme rufen. Sie rappelte sich auf und rannte durch den Wald bis zu der Bilsenkrautstelle.
Die Hebamme wirkte erfrischt. Sie trank aus der Wasserkanne, reichte sie dem Mädchen. «Zu Hause werde ich dir getrocknete Mohnblumen zeigen», erklärte sie dann. «Ich möchte dir erklären, wie man daraus ein Rauschmittel herstellt.»
Das Mädchen nickte, fasste die Hebamme beim Arm, damit sie nicht über die dicken Wurzeln stolperte. Zu Hause zeigte ihr die Hebamme eine Pflanze mit bräunlicher Blüte und grauen Blättern. «Hier, dies ist eine Mohnblume. Sie blüht im Sommer weiß bis violett.» Vorsichtig berührte das Mädchen diese Blüte, riss ein Blatt davon ab und fuhr sich damit sanft über die Wange.
Die Hebamme schaute wehmütig. «Du vermisst Zärtlichkeit, nicht wahr? Hast nicht viel davon bekommen bisher. Einen Mann werden wir dir suchen, wenn die Zeit gekommen ist. Ein Mann, der dich liebt, wird alle deine Wunden heilen.»
Das Mädchen riss erschrocken die Augen auf. «Ich möchte nicht weg von Euch.»
«Nein, nein», beruhigte die Hebamme. «Ich werde dich nicht weggeben. Wir warten, bis die Liebe dich findet, dann wirst du von selbst gehen wollen.»
Sie nahm die Mohnpflanze, schüttelte alle Blätter ab und zeigte auf die pralle Fruchtkapsel, die in der Mitte zum Vorschein kam.
«Mit einem kleinen Messer ritzt man die Kapsel an, wenn sie grün und prall ist. Ein Saft tritt aus, der wie Milch aussieht. Man lässt ihn über Nacht trocknen, dann kratzt man ihn ab, ritzt die Kapsel erneut ein. So lange, bis keine Mohnmilch mehr austritt. Aus dem getrockneten Saft kann man Tinkturen herstellen, die sowohl gegen starke Schmerzen helfen als auch tiefen Schlaf bringen.» Die Hebamme hob den Zeigefinger. «Aber Vorsicht! Schon ein klein wenig zu viel davon kann den Tod bringen. Die richtige Mischung jedoch bewirkt, dass sich die Menschen entspannt fühlen, das Leben nicht so schwer nehmen und Kummer und Sorgen vergessen.»
Sie hob die getrocknete Pflanze hoch. «Diese Kapsel ist braun und reif und enthält keine Rauschstoffe mehr. In der reifen Kapsel findest du schwarze Körnchen, die man zum Backen benutzen kann. Mohnkuchen zum Beispiel wird daraus gemacht. Für unsere Tränke aber sind nur die unreifen grünen Kapseln von Interesse. Man findet sie an Weg- und Feldrändern.»
Die Hebamme spähte aus dem Fenster, lauschte hinaus auf die Straße und flüsterte: «Ich habe noch einiges von dem Saft aus dem letzten Jahr. Man muss vorsichtig damit sein. Es ist nicht gut, die Leute allzu viel wissen zu lassen.»
Kapitel 19
Heinz Blettner schlief unruhig in dieser Nacht, und auch Hella wälzte sich schlaflos von einer Seite auf die andere. Draußen war es still. Ein Streifen Mondlicht drang durch die Ritzen der hölzernen Läden.
Die Dämmerung kroch schon um das Haus, ehe Hella endlich einschlief. Als sie erwachte, war Heinz bereits fort.
«Wo ist er hin?», fragte sie die Magd, die in der Küche die Morgengrütze bereitete. «Ist er zum Galgenberg hinaus?»
Die Magd zuckte gleichgültig mit den Achseln. «Fort ist er, und eilig hatte er es, mehr weiß ich nicht.»
«War er allein, oder hat ihn jemand begleitet?»
Wieder zuckte die Magd mit den Achseln. «Da müsst Ihr den Knecht fragen. Ich war die ganze Zeit in der Küche.»
Hella eilte durch den Hinterausgang in den Hof, der zwischen Haus und Stallgebäude lag. Sie rief nach dem Knecht, aber niemand antwortete ihr. Da öffnete sie zaghaft die Stalltür, denn sie hatte Angst vor dem Knecht, der stets übel gelaunt und mürrisch war. Aufatmend stellte sie fest, dass der Stall leer war. Also ist Heinz doch hinaus zum Galgenberg, überlegte sie.
Nach dem Frühstück machte sie sich auf den Weg zu ihrer Mutter. Gustelies war gerade dabei, den Talar und die Altartücher zu waschen. Sie stand hinter dem Haus, hatte einen Zuber auf Holzböcke gestellt, ihn mit Wasser gefüllt und die Wäsche unter Zugabe von feiner Asche darin eingeweicht.
«Es ist schon wieder ein Mord geschehen», rief Hella statt einer Begrüßung und stürzte ihrer Mutter in die Arme. «Ich habe solche Angst», flüsterte sie. «Ich habe solche Angst um
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