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Galgentochter

Galgentochter

Titel: Galgentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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ich selbst», murmelte das Mädchen.
    Die Hebamme sah sie erstaunt an. Aber da ihr nur ein Ort einfiel, an dem das Mädchen schreiben gelernt haben konnte, sagte sie nichts weiter. Das Mädchen schwieg und wirkte so trostlos wie zuvor.
    Am nächsten Morgen brachen die Frauen früh auf. Das Mädchen trug ein knöchellanges Kleid aus einfachem blaugrauem Tuch, welches ihr die Hebamme genäht hatte. Ihre Holzpantinen rieben an den Seiten. Obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte, brannte die Sonne schon kräftig und trieb der Hebamme den Schweiß auf die Stirn. Aus den Wiesen stiegen dampfende Nebel auf. «Lass uns rasch in den Wald gehen. Diese Hitze macht mich ganz matt», seufzte sie.
    Als sie den Waldrand erreicht hatten, tranken sie aus dem Krug mit Minzwasser und aßen jede einen Apfel, bevor sie weitergingen. Die Hebamme hielt bei jeder Pflanze und erklärte dem Mädchen die Wirkungsweise: «Das hier, das Kraut mit den langen Blättern und den weißen Blüten,nennt man Bärlauch. Es schmeckt sehr würzig, ein wenig nach Zwiebeln, Knoblauch und Schnittlauch. Nicht ganz so scharf, milder. Als Tee lindert es Durchfall und Blähungen. Und dort, siehe, das sind Veilchen. Einmal habe ich gehört, dass die Menschen in Britannien die Blüten kandieren. Meine Mutter hat sie in den Pudding gegeben. Kindern gibt man einen Trank davon gegen den Husten.»
    Das Mädchen hörte zu, besah die Pflanzen und hoffte, nichts zu vergessen.
    Endlich fanden sie das Schwarze Bilsenkraut, das dem Mädchen gerade über das Knie reichte. Aufmerksam betrachtete sie die Pflanze mit den länglichen Blättern, die grob gezahnt waren.
    «In der Mitte der Blüte, so ungefähr ab Juni», erklärte die Hebamme, «kannst du die Frucht sehen, die in einem Kelch ruht. Darin findest du den graubraunen Samen, den manche Wirte ins Bier geben.» Das Mädchen griff nach dem kleinen Kneifchen, doch die Hebamme hielt sie an der Schulter zurück. «Diese Pflanze ist gefährlich, man kann nicht vorsichtig genug sein. Um eine Tinktur davon zu erhalten, muss die ganze Pflanze gekocht und dann ein Auszug hergestellt werden. Wenn man ein paar Tropfen davon zu sich nimmt, wird man fröhlich und könnte die ganze Welt umarmen. Danach fällt man in einen tiefen, tiefen Schlaf. Die Träume, die sich einstellen, sollen ganz und gar unglaublich sein. Einige erzählten, sie wären während des Traums von Teufeln zu unzüchtigen Handlungen gebracht worden, andere berichteten davon, durch die Lüfte geflogen zu sein.»
    Die Hebamme sah sich um, dann sprach sie leise weiter: «Menschenfett, welches mit einigen Tropfen Bilsenkraut versetzt und auf die Haut aufgetragen wird, nennt manHexensalbe. Wohl, weil man auch dabei an Unzucht mit Teufeln und an das Fliegen denkt.» Sie kicherte, dann wurde sie wieder ernst. «Es ist gut, die Salbe und die Tropfen stets nur auf Bestellung anzufertigen. Ich möchte nicht riskieren, dass einmal irgendwer in unserem Haus etwas davon findet. Ein Prozess vor der Inquisition wäre uns gewiss.»
    Sie gab dem Mädchen einen ledernen Handschuh, der ihr viel zu groß war. Die Hebamme erklärte: «Der gehörte früher dem Henkersknecht. Aber du musst keine Furcht haben. Die Leute sind dumm und abergläubisch. Scharfrichter und Stöcker sind Menschen wie du und ich.»
    Da zog das Mädchen den Handschuh über, schnitt das Kraut, löste die Blätter und verstaute diese vorsichtig in einem Leinensäckchen. Dann setzten sich die beiden Frauen unter einen Baum, aßen Brot und Speck. Die Hebamme streckte sich lächelnd. «Es wäre gut, hier noch ein wenig auszuruhen», meinte sie. «Kühl ist es hier, ein prächtiger Platz zum Schlafen.»
    Sie lehnte sich bequem an den Baumstamm und schloss die Augen. Kurz darauf schnarchte sie leise.
    Das Mädchen stand behutsam auf und lief ein wenig im Wald umher, bis es zum Waldrand gelangte. Sie setzte sich, umfasste ihre Knie mit den Armen und schaute über die Wiesen, die sich bis zum Fluss dehnten. Die Sonne flimmerte, und der Himmel war so blau, dass er dem Mädchen vor den Augen verschwamm.
    Lange saß sie so, hatte auch die Straße im Blick, die durch die Vorstadt direkt zum Stadttor führte. Sie sah Warenkolonnen, einzelne Reiter, Bauern, die mit leeren Karren vom Markt kamen, Frauen mit Körben und zwei Mönche, deren schmutzige Kutten im Sand schleiften. Einmal sah ein Mann aus einer Reitergruppe zu ihr herüber, hob dieHand zum Gruß. Das Mädchen sprang erschrocken auf und verbarg sich hinter einem Busch.

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