Galgentod
geben«, insistierte Schnur.
»Nein. Dort haben wir auch nachgefragt. Die haben nichts gefunden. Sie behaupten, dass in der Zwischenzeit Hochwasser gewesen wäre, das alle Akten zerstört hätte.«
»Aha. Hochwasser?« Schnur rieb sich über das Kinn und fügte an: »Okay. Was haben wir noch über Fred Recktenwald?«
»Mit vier Jahren ist er von einem Traktor gefallen und hat sich dabei schwer am Kopf verletzt. Er lag einige Tage im Koma.«
»Ist das für uns wichtig?«
Erik zuckte die Schultern und antwortete: »Damals hieß die Diagnose Schädelfraktur. Ich habe unserem Gerichtsmediziner den alten Krankenhausbericht gezeigt und er meinte, nach heutigen Untersuchungsstandards wäre eine genauere Diagnose möglich.«
»Warum? Ich verstehe nicht, warum die Krankengeschichte für uns von Bedeutung ist.«
»Weil sie etwas über seine Verfassung verraten könnte«, antwortete Erik genauso ungeduldig wie sein Vorgesetzter. »Heute gibt es Begriffe wie Schädel-Hirn-Trauma oder Posttraumatische Störung und Ähnliches. Immerhin hat der Junge sich am Kopf verletzt.«
»Eine alte Kopfverletzung macht Fred Recktenwald zum Verdächtigen?« Schnurs Zweifel wuchsen.
»In dem alten Krankenhausbefund heißt es, Fred Recktenwald habe sich massiv an der Stirn verletzt. Das nennt man nach neuen Erkenntnissen Frontalhirnsyndrom «, setzte Erik zu einer genauen Erklärung an. »Nach unserem Gerichtsmediziner gibt es den Präfrontalen Cortex und den Dorsolateralen Cortex , wobei der Unterschied darin besteht, dass in diesen beiden Fällen unterschiedliche Hirnareale verletzt und zerstört worden sind. Während Menschen mit Dorsolateralem Cortex hauptsächlich Einschränkungen der Intelligenz beklagen, leiden Menschen mit Präfrontalem Cortex an Persönlichkeitsveränderungen wie Unfähigkeit zu Emotionalität, Triebenthemmung, situationsunangemessene Euphorie und Missachtung sozialer Normen. Wenn die Verletzungen die präfrontale Rinde betreffen, kann es passieren, dass sich der Gerechtigkeitssinn ausschaltet. Dabei entstehen Symptome wie Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit. Es mangelt dem Betroffenen an den Botenstoffen im Frontallappen, die dafür zuständig sind, Reize zu filtern, Selbststeuerung zu beeinflussen und Motivation und Aufmerksamkeit zu koordinieren. Auf Deutsch heißt das, dass es zu unverhältnismäßigen Aggressionen kommen kann, ausgelöst durch Provokation.«
»Dazu müsste Bertram Andernach also der Provokateur gewesen sein.«
»Genau.«
»Nur wann? Vor vierundzwanzig Jahren, als er noch Fred Recktenwalds Lehrer war? Wohl kaum.«
Erik schnaubte enttäuscht.
»Hast du sonst nichts gefunden, was uns einen Hinweis darauf geben könnte, dass er durch diesen Unfall irgendwelche Beeinträchtigungen erlitten hat?«
»Doch. Zum Beispiel hat er das Max-Planck-Gymnasium besucht, aber die Mittlere Reife nicht geschafft.«
»Das passiert auch Schülern, die nicht auf den Kopf gefallen sind.«
»Dann hat er in keinem Job durchgehalten – ist immer nach kurzer Zeit rausgeflogen.«
»Dafür gibt es Hartz IV«, murrte Schnur. »Und die sind auch nicht alle auf den Kopf gefallen.«
»Ich gebe auf«, gestand Erik. »War halt ein Gedanke, dass da der Hund begraben liegt.«
Schnur erwiderte: »In einem demolierten Kopf?«
»Ja. Persönlichkeitsveränderungen. Neigung zur Gewalt. Oder solche Dinge. Ich kenne mich mit dem menschlichen Gehirn nicht aus. Ein Arzt könnte da mehr sagen.«
»Darauf komme ich zurück, wenn es nötig werden sollte.«
Damit musste sich Erik zufrieden geben.
Schnur rieb sich über sein Kinn. Die ersten roten Barthaare wuchsen schon wieder. Erik schmunzelte bei dem Anblick. Als Schnur seinen Blick bemerkte, fragte er: »Kommt der verräterische Bart wieder durch?«
»Ja. Aber warum sträubst du dich so vehement gegen den Spitznamen Barbarossa ?«, fragte Erik. »Mich würde so ein Spitzname ehren. Mich nannte man früher Langer . Das klingt ja nun wirklich langweilig.«
»Es liegt wohl daran, dass ich diesen Spitznamen in einer Zeit bekam, in der ich mich in der Pubertät befand, mich insgesamt nicht wohl gefühlt habe in meiner Haut und ständig auf der Suche nach Bestätigung war«, antwortete Schnur. »Und dieser Spitzname kam mir wie ein herber Rückschlag vor.«
»Dabei war Barbarossa schon mit dreiunddreißig der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.« Erik schüttelte den Kopf. »Du bist bescheiden – nennst den höchsten Adelstitel herben
Weitere Kostenlose Bücher