Galgentod
neuen Versuch zu wagen. Es lastete auf ihr, beim Abitur durchgefallen zu sein. Diese Schmach hatte sie den Lehrern zu verdanken, deren eigenen Ziele ihnen schon immer wichtiger waren als die der Schüler, die sie unterrichteten. Andernach hatte es zu seinem Hobby gemacht, Mirna zur Schau zu stellen, hatte auf jeden noch so kleinen Fehler gelauert. Dabei hatte sie hart gearbeitet, hatte nichts dem Zufall überlassen. Doch Andernach hatte immer neue Argumente gefunden, sie zu denunzieren.
Jetzt nicht mehr.
Sie spürte deutlich, wie gut ihre Chancen plötzlich standen, die Prüfung endlich zu packen.
Beschwingt verließ sie die Aula, trat hinaus auf den Schulhof, der während der Unterrichtsstunden riesig wirkte, weil er wie leergefegt war. Der angrenzende Sportplatz war inzwischen fertiggestellt. Ebenso die neue Turnhalle, die durch ihre futuristische Bauweise ins Auge stach. Das Fach Sport hatte Mirna schon lange abgewählt. Sie mochte das Schwitzen nicht. Trotzdem übte die neue Turnhalle einen Reiz auf sie aus. Welche versteckten Winkel es in diesem interessanten Gebäude wohl geben mochte?
Das Läuten unterbrach ihre Gedanken und kündigte die Pause an. Sofort konzentrierte sich Mirna auf den Ausgang des Schulgebäudes, um nur ja niemanden zu verpassen.
Laras selbstfälliges Grinsen ging ihr schlagartig gegen den Strich. Im Gleichschritt trat die Blondine mit ihrem Mathelehrer auf den Hof. Dabei unterhielten sie sich angeregt. Über was konnte Lara mit Günter Laug wohl reden? Mirna glaubte nicht, was sie da sah. Sie selbst hatte bei ihm eine Gleichgültigkeit erfahren, die ihr heute noch zusetzte. Günter Laug hatte Mirna keine Chance gegeben, sich in Mathe zu bessern, wobei er sie nicht – wie Bertram Andernach – mit Boshaftigkeiten bedachte. Nein, er hatte sie überhaupt nicht beachtet. Die Erinnerung daran stellte Mirnas Vorhaben, das Abitur noch einmal zu wagen, plötzlich in Frage. Würde ihr das Abitur gelingen, nur weil Bertram Andernach tot war?
Günter Laug könnte ihr ebenfalls im Weg sein. Soweit sie wusste, gab es keinen anderen Mathekurs. Sie würde wieder zu dem Alkoholiker zurückkehren müssen.
Sie schnaubte.
Endlich trennten sich die beiden voneinander – oder besser gesagt, ließ Günter Laug die Schülerin gehen.
»Hey, was willst du von dem Versager?« Mit dieser Frage trat sie Lara entgegen. »Ist das eine Mitleidstour, damit er sich nicht selbst erhängt?«
»Jetzt wirst du aber krass«, murrte Lara. »Du bist nur sauer, weil er mich beachtet und dich nicht. Er steht eben auf blond.« Zur Betonung warf sie ihre platinblonde Mähne über die Schultern.
»Wenn du das so sagst …« Mirna strich sich durch ihre pechschwarzen Haare.
»Was?« Lara stutzte.
»Ach nichts«, wehrte Mirna ab. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich einen neuen Versuch starte, mein Abi zu schaffen.«
»Da musst du dich aber anstrengen, solange Mathilde Graufuchs und Günter Laug noch da sind.« Lara lachte verächtlich.
»Die werde ich auch noch von meinen Leistungen überzeugen.«
»Von welchen Leistungen?«
Mirna boxte Lara gegen die Schulter.
Sie suchten sich ein geschütztes Plätzchen im Schatten, wo sie ungestört rauchen konnten. Als die ersten Rauchschwaden in die Luft zogen, berichtete Lara: »Mathilde Graufuchs ist seit Bertram Andernachs Tod nicht mehr zum Unterricht gekommen.«
»Ach!« Mirna staunte. Fast hätte sie sich am Rauch verschluckt.
»Wir schließen schon Wetten ab, dass sie womöglich ganz wegbleibt.« Lara lachte zufrieden. »Das wär doch in deinem Sinn, oder?«
»Nicht nur in meinem Sinn«, korrigierte Mirna. »Du hast bei der Alten auch nicht gerade einen Stein im Brett. Soweit ich weiß, steht Mathilde Graufuchs nicht auf Blondinen.«
»Das kann uns bald egal sein, wenn ich meine Wette gewinne.«
»Du wettest also, dass Mathilde Graufuchs nicht mehr zurückkommt.« Mirna feixte. »Warum sollte sie das tun? Die Alte hat doch sonst nichts, als arme unschuldige Schüler zu quälen.«
»Man munkelt, dass sie Angst hat, diese Schule noch mal zu betreten«, antwortete Lara mit einem süffisanten Grinsen. »Die Alte ist traumatisiert von den runtergelassenen Hosen des Kollegen – dabei war da gar nicht so viel!«
Mirna und Lara stießen ein herzhaftes Lachen aus. Seit langem waren sie wieder einmal einer Meinung.
Kapitel 39
Bei Tageslicht und vollem Verkehr benötigte Erik doppelt so lang für die gleiche Strecke, die er erst am Abend zuvor zurückgelegt hatte.
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