Galgenweg
Frisur spitz zu. Obwohl Mrs Webb noch im Morgenmantel war, hatte sie ein wenig Rouge aufgelegt, was das unnatürliche Grün ihrer Augen betonte. Der Morgenmantel war aus Seide, und darunter trug sie ein langes weißes Nachthemd. Sie war schlank, hatte kleine Brüste und eine blasse Haut. Ihr wirkliches Alter zeichnete sich um den Hals herum ab, wo die Haut faltig war und einen Gegensatz zu dem kosmetischen Werk bildete, das sie in ihrem Gesicht vollbracht hatte.
»Geht es um Peter?«, fragte sie atemlos, ehe ich etwas sagen konnte, und warf einen Blick über meine Schulter auf den Streifenwagen, den ich in ihrer Einfahrt abgestellt hatte.
»Nein, Mrs Webb. Es ist alles in Ordnung«, sagte ich und stellte mich vor. »Ich bin wegen des Mannes hier, der sich in Ihrem Garten herumgetrieben hat«, erläuterte ich.
»Ach, richtig«, sagte sie und lachte leichthin. »Oh, kommen Sie bitte herein.«
Sie führte mich in die Küche, wo die Reste des Abendessens vom Vortag noch auf der Arbeitsfläche neben der Spüle standen. Eine beinahe leere Flasche Weißwein und zwei Gläser, von denen eines mit Lippenstift beschmiert war, standen auf dem Esstisch aus Kiefernholz.
»Tut mir leid, es ist ein bisschen unordentlich hier«, sagte sie und deutete lässig auf die Spüle. »Ich hatte richtig Angst und musste jemanden bitten, über Nacht bei mir zu bleiben. Eine Freundin.«
Ich nickte und ließ ihr diese Lüge durchgehen.
»Also, möchten Sie eine Beschreibung oder so?«, fragte sie. Sie setzte sich nicht, sodass ich ebenfalls gezwungen war stehen zu bleiben. Ich vermutete, dass sie es bereits bereute, mich hereingebeten zu haben, und sie mich nun so schnell wie möglich wieder loswerden wollte.
»Nun, vielleicht könnten Sie mir sagen, wo Sie – ihn? sie? – gesehen haben.«
»Ihn – eindeutig ihn. Er stand am Rand des Gartens; da drüben unter den Apfelbäumen.« Sie ging ans Fenster und deutete auf eine Stelle, an der drei oder vier Apfelbäume etwa zweihundert Meter vom Haus entfernt standen.
»Was hat er getan?«, fragte ich.
»Einfach nur dagestanden«, sagte sie. »Hat das Haus beobachtet. Ich kochte gerade das Abendessen, und plötzlich war er da. Und hat hierhergestarrt.«
»Hat er … irgendwas getan?«, fragte ich und suchte nach den passenden Worten, um ihr zu erklären, was ich meinte. »Verstehen Sie?« Ich nickte ihr vielsagend zu.
»Ach, das meinen Sie!« Sie lachte hell auf. »O nein, so etwas nicht. Er hat nur geguckt.«
»Sind Sie zu ihm hinausgegangen?«
»Nein, nein. Mein Freund ist auch ans Fenster gegangen, und als der Mann ihn gesehen hat, ist er weggelaufen«, sagte sie einen Sekundenbruchteil, ehe ihr bewusst wurde, dass sie gerade in einem Satz zwei Lügen offenbart hatte. Sie hatte einen Mann zu Besuch gehabt, und der war bereits den ganzen Abend bei ihr gewesen.
Mrs Webb errötete und versuchte, ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche ihres Morgenmantels zu fischen. Ich bot ihr eine von meinen an und nutzte die Gelegenheit, mir selbst auch eine anzustecken. Als ich ihr Feuer gab, merkte ich, dass sie farbige Kontaktlinsen trug, denn die Linse im linken Auge saß ein wenig schief, und jenseits des Grüns war ein Stückchen ihrer natürlichen braunen Augenfarbe zu sehen. Sie merkte, dass ich sie musterte, und veränderte daraufhin ihre Körperhaltung.
»Er ist also weggelaufen, als er Ihren Freund sah?«, fragte ich.
Sie nickte. »Erst dachte ich, er wäre Reporter oder so. Sie wissen schon – wegen Peters Verhaftung. Aber er war zu schlecht gekleidet. Jeans und eine Strickjacke oder so. Kahlköpfig.«
Ich nickte. »Ich sehe mich da draußen einmal um, Mrs Webb. Abgesehen davon halten Sie bitte die Augen offen. Wenn er noch mal kommt, rufen Sie uns an. Was halten Sie davon?«
Sie lächelte. »Danke, Inspector«, sagte sie und öffnete die Hintertür, damit ich in den Garten gehen konnte.
Ich lief um die Apfelbäume herum, dankbar für deren kühlen Schatten, und tat so, als würde ich den Boden nach Beweisen absuchen für den Fall, dass mich jemand aus dem Haus heraus beobachtete. In Wirklichkeit wusste ich, wer der Landstreicher gewesen war, und vermutete, dass es in Sachen Beweise nichts gab, wonach es sich zu suchen lohnte. Gut möglich, dass Kerr nach einem Schlafplatz gesucht hatte. Oder nach jemandem, dem er ein bisschen Geld stehlen konnte. Oder er suchte hier die Person, wegen der er zurückgekehrt war, so hatte er es mir in dem Lokal schließlich
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