Galgenweg
es. Wenn ich ihn davongejagt hätte, hätte er vielleicht diese dämliche ›Mission‹, die er sich in den Kopf gesetzt hatte, aufgegeben und wäre losgezogen, um sich zu betrinken oder ein Mädchen aufzureißen wie jeder normale Ex-Knacki.«
»Du kannst jemandem, der seine Prinzipien hat, nicht sagen, was er tun oder lassen soll, Ben. Das müsstest du doch am besten wissen. Du bist trotzdem noch heute Morgen zu deiner Verabredung mit Kerr gegangen, trotz allem, was gestern geschehen war.«
»Das ist was anderes.«
»Warum? Du scheinst doch auch zu glauben, dass du eine Mission hast. Tja, wenn das stimmt, dann mag Gott vielleicht eine ziemlich ungewöhnliche Art haben, seine Angelegenheiten zu regeln, aber ich glaube nicht, dass er sich je irrt.«
Ich blickte sie an und meinte ganz kurz, etwas Größeres in meiner Frau aufscheinen zu sehen.
»Du hast James Kerr nicht an den Baum genagelt«, sagte sie.
»Vielleicht ist es eine Kollektivverantwortung, Debs. Vielleicht tragen wir alle Schuld daran. Er war obdachlos; niemand hat ihm auch nur ein Wort geglaubt. Er ist zurückgekommen, um den Menschen zu vergeben, die ihn verraten hatten. Ich kann doch nicht der Einzige sein, der hier eine religiöse Nebenbedeutung sieht. Was, wenn wir alle für das gerichtet werden, was ihm zugestoßen ist?«
»Du bist kein Richter, Ben. Du bist Polizist und Vater und Ehemann und ein Mensch. Versuch nicht immer, mehr zu sein als genau das.«
15
Freitag, 11. Juni
Zum zweiten Mal in beinahe ebenso vielen Tagen lief ich durch eine Flut von Beileidsbekundungen zu meinem Schreibtisch. Costello sprach in seinem Büro mit jemandem, aber ich konnte nicht sehen, wer es war. Williams war ins Krankenhaus von Letterkenny gefahren, um bei der Autopsie von Kerrs Leiche dabei zu sein, die man nach Abschluss der Spurensicherung von dem Baum in der Gallows Lane abgenommen hatte.
Ich saß in unserem Büro und legte einen neuen Ordner an. Beginnend mit dem Raubüberfall in Castlederg schrieb ich alles auf, was ich im Hinblick auf Kerr wusste.
Er hatte zu einer Viererbande gehört und war von Peter Webb angeheuert worden. Von den anderen dreien hatte er nur Webb wiedererkannt, allerdings war ein weiterer Mann ihm bekannt vorgekommen. Obwohl Kerr den Namen Webb bei der Vernehmung genannt hatte, war die RUC diesem Hinweis nicht nachgegangen.
Nach seiner Rückkehr hierher war Kerr mehrfach auf Webbs Grundstück gesichtet worden. Webbs Frau hatte ein Verhältnis. Ich vermutete, dass derjenige, der beim Special Branch für Webb zuständig war, ihn am Abend seiner Ermordung aufgesucht hatte. Nach Webbs Tod war Kerr erneut zu Webbs Haus gegangen – diesmal, um Geld von der Witwe zu erpressen, indem er damit gedroht hatte, Einzelheiten aus Webbs Vergangenheit zu enthüllen.
Dann hatte Kerr angeboten, sich zu stellen, sobald er seine Mission beendet hätte; nur hatte ihn vorher jemand an denselben Baum genagelt, an dem auch Webb gehangen hatte.
Kerr hatte offenbar die Identität der beiden übrigen Bandenmitglieder herausgefunden und sie damit konfrontieren wollen – oder ihnen vergeben, falls er doch die Wahrheit gesagt hatte. Sie waren augenscheinlich nicht an seiner Vergebung interessiert gewesen und hatten stattdessen den Job zu Ende gebracht, den sie Jahre zuvor begonnen und vermasselt hatten, als sie auf ihn geschossen und ihn dann im Glauben, er sei tot, zurückgelassen hatten. Wahrscheinlich war die Tat nicht nur von einem Mann begangen worden: Kerr war recht klein, doch ich bezweifelte, dass ein einziger Mann einen anderen an einen Baum drücken und gleichzeitig daran festnageln konnte. Das bedeutete, die übrigen beiden Mitglieder der Castlederg-Bande waren gesund und munter – und immer noch in der Nähe.
Wenn Kerr herausgefunden hatte, wer die anderen Bandenmitglieder waren, hieß das logischerweise entweder, dass Webb es ihm vor seinem Tod verraten oder Kerr es später auf die eine oder andere Weise in Erfahrung gebracht hatte. Aber wie? Und bedeutete das, dass Kerr für Webbs Ermordung verantwortlich war?
Über diese letzten Fragen kam ich nicht hinaus, und so verließ ich das Büro, um mir einen Kaffee zu holen. Ich war schon auf halbem Weg in die Kochnische, da hörte ich Costello meinen Namen rufen. Er stand vor seiner Bürotür und winkte mich zu sich. Ich stellte meine leere Tasse ab, ging in sein Büro und sah mich wieder einmal Miriam Powell gegenüber. Sie saß vor seinem Schreibtisch, und auf ihren Lippen erstarb ein
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