Galileis Freundin (German Edition)
Ereignissen hinzunehmen, als eine Verknüpfung mehr oder weniger willkürlicher Geschehnisse. Der fünfzehnjährigen Frau e r schien über all die glatten, ordentlich sortierten einzelnen Bücher hinweg ein einziges großes Fragezeichen zu liegen. Das Fragezeichen symbolisierte ihre tiefste Sehnsucht nach dem „Ich“. Wer bin ich, was will ich, welche Entscheidungen muss ich treffen? Nach alledem, was sie bi s her gelesen hatte, vermutete sie, dass hinter keinem einzigen dieser Lederrücken die Antwort auf ihre Frage zu finden war.
Nicht die interessanten Geschichten und Meinungen anderer Menschen, nicht die heroischen Taten von selbständigen Frauen, die aus dem Dunkel der Geschichte in das Licht der Bewu n derung herausgetreten waren, gegenüber einer beherrschenden und unterdrückenden Männe r welt, enthielten die Antwort auf ihre drängende Frage. Diese Antworten müsste sie sich selber geben.
Von dem Schreibpult an dem offenen Fenster schaute sie eine Weile zwischen den Fensterb ö gen hinaus auf den gemächlich fließenden Arno. Dichter, undurchdringlicher Regen ging über dem tristen Florenz nieder. An dem oberen äußeren Fenstersims sammelte sich Wasser und tropfte direkt vor ihren Augen in die Tiefe. Wie dünne Schnüre fiel der Regen auf den Arno. Kleine Punkte tanzten beim Aufprall auf der Oberfläche des Flusses. Sie schaute wieder auf die Tropfen vor ihrem Fenster, die sich einzeln lösten und selbständig ihren Weg suchten.
„Was ist eigentlich Wasser?“ fragte sie sich. „Ist es eine Ansammlung einzelner, individueller Tropfen, die sich zeitweise zu einem gemeinsamen Ganzen zusammenfinden, eine Weile lang zusammenbleiben, um sich bald wieder als Tropfen, genauso wie sie es vorher waren, zu tre n nen. Oder gibt es den einzelnen Tropfen in der gleichen Form und Zusammensetzung später nicht mehr, wenn er sich erst einmal mit anderen Tropfen vermischt hatte?
Auch in der Masse von Menschen bei einem Volksfest auf der Piazza Granduca oder auf dem Palio in Siena, bleibe ich immer ich selbst. Ich gehe in die Menge als Caterina hinein und verm i sche mich mit den Menschen. Selbst in dieser Menge bleibe ich immer Caterina, auch wenn von dem höchsten Stadtturm aus ein Besucher nur noch eine Masse Menschen erkennen und mich als Caterina nicht wahrnehmen kann. Ich kann auch jederzeit wieder als Caterina heraustreten. Hätte der Besucher auf dem höchsten Stadtturm ein Fernrohr von Galileo, dann könnte er mich als Caterina erkennen. Meine Liebe und mein Leid, meine Freude und meine Schmerzen, mein Glück und meine Traurigkeit bleiben mir stets erhalten. Ob ich mich mit der Masse vermische oder ob ich alleine hier in dieser Bibliothek meines Vaters ein Buch lese. Ich will und ich werde diese meine eigenen Gefühle bewahren. Selbst wenn man mir die Anpassung an das Leben der Buondelmonti vorschreibt. Nur die Frauen, die nicht wissen, welches ihre Gefühle sind, was sie wollen, wohin sie gehen wollen, lassen sich in einem Strom, wie dem Fluss Arno, treiben. Das Flussbett ist ihre Bestimmung. Nur die Menge Wasser gibt ihnen Sinn und Halt.“
Was tat zurzeit ihr väterlicher Freund, der Forscher Galileo Galilei, den sie seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte? Sie erwog, in die wichtigste Forschung einzusteigen, die es für einen Menschen geben konnte. Die Erforschung des eigenen Ich, die Suche nach sich selbst. Eine Forschung, bei der ihr selbst Galileo nicht würde helfen können. Ehe sie sich versah, hatte C a terina eine Feder in der Hand und ihr Schreibpapier vor sich ausgebreitet.
Ehrwürdiger, hoch gelehrter Herr,
in meiner tiefen Einsamkeit, suche ich Trost bei Euch, auf eine Antwort hoffend, die für mich erkennbar auch nicht von Euch gegeben werden kann. Dennoch, mein Freund, richte ich mich an eure Weisheit. Vielleicht mit dem Ergebnis, von Euch auch nur eine enttäuschende Nac h richt zu erhalten.
Wie Euch aus den vielen Gesprächen mit meinem Vater zu Wissen gekommen sein wird, werde ich in wenigen Wochen den Bund der Ehe eingehen mit einer der größten und reichsten Famil i en. Der Vertrag zu der Ehe spricht im Wesentlichen die Rechte und Pflichten und die Vorteile der beiden Familien aus. Von den Gefühlen, Sehnsüchten und Wünschen der beteiligten Me n schen, Graf Lorenzo und mir, Caterina, wird nicht gesprochen. Sicher werde ich nicht den Mann ehelichen, dem ich in grenzenloser Liebe und Zuneigung verbunden sein werde. Ich muss einen sehr kranken, ja todkranken Mann, als
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