Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)
allergewaltigsten Talstrecken. Wir waren praktisch schon auf dem Dach von Kalifornien. Einmal musste ich wie die anderen auf einem schmalen Sims um einen Felsvorsprung herumkriechen, und ich hatte richtig Angst. Der Abhang war 30 Meter tief, das reichte schon völlig aus, sich das Genick zu brechen. Dann kam noch ein kleiner Sims, auf den man kurz aufschlagen konnte, als Vorbereitung für einen schönen Sturz von 300 Metern auf Nimmerwiedersehen. Der Wind war jetzt schneidend. Doch dieser ganze Nachmittag, mehr noch als der vorige, war voll von alten Vorahnungen oder Erinnerungen, als ob ich schon einmal an diesem Ort gewesen und durch diese Felsen geklettert wäre, mit anderen Zielen, älteren, ernsteren, einfacheren. Schließlich erreichten wir den Fuß des Matterhorns, wo ein wunderschöner kleiner See war, den meisten Menschen dieser Welt unbekannt, nur einer Handvoll Bergsteigern vertraut, ein kleiner See in fast 4000 Metern Höhe mit Schnee an den Ufern und schönen Blumen und einer schönen Wiese, einer Alpenwiese, flach und verträumt, auf der ich mich sofort niederwarf und meine Schuhe auszog. Japhy war seit einer halben Stunde da, als ich dort ankam, und es war kalt, und er hatte sich wieder angezogen. Morley tauchte lächelnd hinter uns auf. Wir saßen da und sahen hinauf auf den steilen Geröllabhang, der uns bis zur letzten Bergspitze des Matterhorns noch bevorstand.
«Das sieht nicht nach viel aus, das können wir schaffen!», sagte ich jetzt froh.
«Nein, Ray, das ist mehr, als es aussieht. Bist du dir darüber im Klaren, dass das nochmal 300 Meter sind?»
«So viel?»
«Wenn wir nicht einen Eilmarsch nach da oben machen, kommen wir vor Anbruch der Nacht nie wieder runter zu unserem Lager, und bis runter zu unserem Wagen bei der Hütte nicht vor morgen früh; na, sagen wir gegen Mitternacht.»
«Entsetzlich!»
«Ich bin müde», sagte Morley. «Ich glaube, ich lasse es lieber.»
«Ja, du hast recht», sagte ich. «Der ganze Sinn der Bergsteigerei ist für mich nicht, groß zu beweisen, dass man es bis zum Gipfel schafft, sondern dass man überhaupt in diese wilde Landschaft herauskommt.»
«Wie du meinst», sagte Japhy. «Ich gehe.»
«Wenn du gehst, gehe ich mit.»
«Morley?»
«Ich glaube nicht, dass ich es schaffe. Ich warte hier.»
Und der Wind war stark, zu stark. Ich hatte das Gefühl, dass er uns am Klettern hindern würde, sobald wir nur ein paar Hundert Meter den Abhang hoch wären.
Japhy nahm sich ein kleines Paket mit Erdnüssen und Rosinen und sagte: «Dies wird unser Brennstoff sein, Junge. Ray, bist du fertig für einen Eilmarsch?»
«Fertig. Wie würde ich denn vor den Leuten im ‹Place› dastehen, wenn ich so weit mitgekommen wäre, bloß, um in der letzten Minute aufzugeben?»
«Es ist spät, beeilen wir uns.» Japhy ging sehr schnell los und rannte sogar manchmal, wenn wir rechts oder links an kleinen Geröllgraten entlangklettern mussten. Geröllgrate, das sind lange Erdrutsche aus Sand und Steinen, sehr schwierig zum Klettern, weil immer kleine Lawinen losgehen. Alle paar Schritte kam es uns so vor, als ob wir in einem furchterregenden Fahrstuhl höher und höher stiegen. Ich musste trocken schlucken, als ich mich umdrehte und hinter mir ganz Kalifornien sah. Es breitete sich offenbar in drei Richtungen aus, unter einem riesigen blauen Himmel mit furchteinflößenden unsteten kosmischen Wolken und endlosen Ausblicken auf ferne Täler und sogar Hochebenen, und, soweit ich wusste, ganz Nevada da draußen. Es machte einem Angst, nach unten zu blicken und Morley als träumenden Punkt bei dem kleinen See zu sehen, wie er auf uns wartete. ‹Oh, warum bin ich nicht beim alten Henry geblieben›, dachte ich. Jetzt kriegte ich Angst, noch höher zu steigen, weil ich mich einfach davor fürchtete, zu weit nach oben zu kommen. Ich bekam allmählich Angst, vom Wind weggeblasen zu werden. All meine Albträume, in denen ich von Bergen und abgründigen Gebäuden heruntergefallen war, gingen mir mit vollkommener Klarheit durch den Kopf. Außerdem waren wir beide jedes Mal, wenn wir 20 Schritte aufwärts gegangen waren, völlig erschöpft.
«Das kommt von der großen Höhe, in der wir jetzt sind, Ray», sagte Japhy, der keuchend neben mir saß. «Iss Rosinen und Erdnüsse, und du wirst sehen, wie dich das hochbringt.» Und es brachte uns jedes Mal so ungeheuer hoch, dass wir ohne ein Wort aufsprangen und 20, 30 Schritte weiterkletterten. Dann setzten wir uns wieder hin,
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