Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
sei so etwas wie der Lieblingsheilige der Italiener. Und vielleicht ist es blasphemisch, aber ich würde sagen: Padre Pio ist der Bruno Gröning Italiens. Zwar hatte der Geistliche keine Fußnagel-Hautfetzen-Kugeln, dafür konnte er hellsehen und beherrschte die große Kunst der Bilokation: Padre Pio konnte an zwei Orten gleichzeitig sein und an zwei Orten gleichzeitig heilen. Doch eine andere Sache macht ihn zum Supertrumpf im Wunderheiler-Quartett. Kurz nach der Priesterweihe entdeckte der Padre blutige Stellen an seinen Händen und an den Füßen: die Wundmale Jesu Christi. Ein Klassiker. So wurde der Padre zum Popstar. Und auch wenn böse Zungen behaupten, Pio habe sich die göttlichen Zeichen mit ätzender Säure selbst zugefügt und noch dazu eine unchristliche Schwäche für Bunga-Bunga-Partys gehabt (genau wie Gröning angeblich auch), hat ihn der Vatikan vor zehn Jahren heiliggesprochen. Das ist Italien. Renato hängt das Bild vorsichtig zurück an den Haken.
«Padre Pio. Wir lieben ihn. Und ich verspreche dir, Dennis: Dich werden die Italiener auch lieben! Zu Fuß nach Italien, du bist verrückt, aber du bist mein Freund!»
Später erfahre ich, dass Padre Pio nie einen Fuß auf die Burg Canossa gesetzt hat und aus einer völlig anderen Gegend in Süditalien stammt. Aber egal, ich freue mich auf die Liebe der Italiener, so wie ich die Liebe der mittelalten Frau Wolf-Zielinski fürchte. Trotzdem möchte ich ihr Vortragsdebüt nicht verpassen und verlange nach der Rechnung.
«Alora: Insalata Mista, Canneloni al Forno, drei Radler, ein doppelter Espresso – fünf Euro bitte.»
«Nein!», sage ich.
«Doch!», sagt Renato.
«Nein!», sage ich.
«Doch!», sagt Renato und deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger in mein Gesicht. «Und wenn du in Italia bist, dann denkst du mal an mich. Capito?»
Bitte nicht falsch verstehen, aber in diesem Moment spüre ich ein klitzekleines bisschen Amore in mir. Allerdings hat Renato mir auch mit sanftem Druck nahegelegt, ihn und seine ausgezeichnete Pizzeria in diesem Buch positiv zu erwähnen. Was soll ich machen? Auch das ist Italien.
Wenn Jesus, Padre Pio oder Bruno Gröning wieder auf die Erde kämen, wo würden sie das erste Mal zu den Menschen sprechen? Auf dem Petersplatz in Rom? Auf dem Times Square? Bei Reinhold Beckmann? Das «Haus des Gastes» in Gladenbach ist der übliche provinzdeutsche Albtraum aus Funktionalität und flippigem Neunziger-Jahre-Design mit Waschbeton-Pflanzkübeln vor dem Eingang. Montags bittet die Volkshochschule zum Seniorentanz, dienstags trifft sich die Bläsergruppe der Jägervereinigung Hinterland, heute Abend tagen die Weight Watchers im Konferenzraum. Frau Wolf-Zielinski hat für ihren Vortrag die sechzig Quadratmeter kleine «Doktor-Berthold-Leinweber-Stube» im ersten Stock reserviert, Treppe rauf, scharf rechts. An der Tür, pressspanfurniert, klebt ein DIN-A4-Zettel. «Vortrag um 19:30 Uhr: Was Dich heilt und was Dich krank macht.» Der Seminarraum ist optimistisch bestuhlt, aber immerhin, fast zwanzig Gäste sitzen in den Reihen zwischen grauen Metaplanwänden und den weißgold gerahmten Ölmalereien eines regionalen Künstlers. Die Neonlampen sind ausgeschaltet, nur eine einzige orangefarbene Kerze erhellt die Szenerie. Sie steht auf dem rötlichen Kunstfaserteppich. Um sie herum liegen beschriftete Karteikarten: «Liebesfähig sein», «Ganz sein», «In meiner inneren Mitte sein». Dazu flöten esoterische Klänge.
Wer besucht so einen Vortrag? Die meisten Zuhörer sind weiblich und schon ergraut, eine von ihnen hustet schwer. Neben mir in der ersten Reihe sitzt eine etwas jüngere Frau mit verquollenem Gesicht und wässrigen Augen, die abwechselnd nervös ihre Handflächen knetet oder in winzig kleinen Schlucken eine dunkelbraune Flüssigkeit aus einer unetikettierten Plastikflasche zu sich nimmt. Sie hat ganz offensichtlich Schmerzen.
Erika Wolf-Zielinski nimmt direkt vor uns Platz. Eine gemütliche Hausfrau in Ringelpulli und Jeans, mit praktischer Kurzhaarfrisur und Brille. Wie ein Schulmädchen wackelt sie auf ihrem Sitz herum, die Hacken ihrer Turnschuhe an die Stuhlbeine geklemmt, die Spitzen tippeln auf der Teppichkante. Iris, eine graue Maus in Jeanskombination mit Pagenschnitt und leicht geröteten Wangen, hockt genauso da und starrt auf den Boden. Sie ist die Koreferentin. «Es ist schön, dass so viele heute Abend gekommen sind», sagt Frau Wolf-Zielinski und schenkt mir ein halbes Lächeln. Ganz besonders
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