Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Entspannung. Vielleicht liegt es an diesem Morgenlicht, das ich so liebe. Wenn sich der Himmel öffnet, die ersten Sonnenstrahlen wie Schnee in die Baumreihen fallen und leuchtende Punkte auf den Moosteppich malen, dann schneit es auch auf meine Seele. Der Sound des Waldes, dieses Mantra der Rotkehlchen und Zaunkönige hypnotisiert mich, und der Geruch von Erde und taufeuchtem Laub erinnert mich an die endlosen Sommer meiner Kindheit, als ich in den Bombentrichtern im Waldstück meines Opas BMX gefahren bin. Irgendwann fand ich in den Löchern Autowracks, Kühlschränke und alte Farbdosen, und ein paar Wochen später fand ich die Löcher nicht mehr wieder.
Nach sieben Tagen zwischen Muffeln, Wildsäuen und Flachwurzlern zerrt mich der Rothaarsteig brachial zurück in die Zivilisation. Der Weg der Sinne führt auf seinen letzten, desillusionierenden Metern über einen Autobahnzubringer, durch einen versifften Graffiti-Tunnel, vorbei am «American Restaurant Food Attack» und dem anatolischen «Bistro Casablanca» in die Arme der lichtscheuen Gestalten am Bahnhof Dillenburg. Es wäre das gänzlich unwürdige Finale eines wundervollen Wanderwegs, wenn nicht hier, ausgerechnet in der hessischen Provinz, die sterblichen Überreste des Messias begraben lägen: die Asche des großen Geistheilers Bruno Gröning.
Bruno wer?
Bruno Gröning, eigentlich Bruno Grönkowski, war der Heiland der Trümmerfrauen, der Ritter der Kriegswaisen, das allerletzte Fünkchen Hoffnung der Zerschossenen, Verstümmelten und Verkrüppelten. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg glaubten einige tatsächlich, der Allmächtige hätte seinen Sohn ein zweites Mal auf die Erde entsandt – diesmal in Gestalt eines sehnigen deutschen Tischlers mit Geheimratsecken, Segelohren und schwarzen, dämonischen Augen. Man könnte auch sagen: eine Mischung aus Bill Murray und Bram Stokers Dracula. Seinen fußballgroßen, furchterregenden Kropf betrachtete Gröning übrigens nicht als Leiden, sondern als Beweis für seine anschwellende, göttliche Energie. Zehntausende versammelten sich täglich vor Grönings Wohnung und warteten darauf, dass der Meister auf dem Balkon erschien und ihnen seinen paranormalen «Heilstrom» schickte. Die Presse nannte ihn ein «Phänomen», sprach von einem «Weltereignis», und es wirkte, als hätte Gröning, der zuvor erfolglos als Kellner, Uhrmacher, Konditor, Filmvorführer und Postbote jobbte, endlich seine Bestimmung gefunden.
Natürlich lief die Schulmedizin Sturm, aber Deutschland lechzte nach Wundern, und Bruno Gröning lieferte. «Es gibt kein Unheilbar», verkündete er, «Gott ist der größte Arzt.» Eines Tages entdeckte Gröning einen Gelähmten in der Menge. Er ließ um ihn herum Platz machen, besah den Kranken und befahl: «Steh auf und geh!» Und sogleich erhob sich der Mann aus seinem Sitz und wackelte zu Fuß nach Hause. Den Rollstuhl schob er. Leider versagten Grönings himmlische Heilkräfte in der eigenen Familie: Die Ehefrau und beide Kinder starben früh, der Maestro selbst hauchte seinen Geist mit nur zweiundfünfzig Jahren aus. Er litt an Magenkrebs.
Auf Grönings Grab in Dillenburg, das immer noch täglich von Verzweifelten heimgesucht wird, ruht eine Steinkugel: «Vertraue und Glaube» steht darauf. Vielleicht, weil Gröning seinen Anhängern zu Lebzeiten Bällchen aus Stanniolpapier verkaufte, in die er Blutstropfen, Haare und Fußnägel einschloss. Bis heute berichten Menschen im Internet von den unerklärlichen Kräften dieser kostbaren Kugeln – wie Grönings DNA den Ischias beruhigt oder den Schnupfen der Enkel lindert. Es gibt sogar einen weltweiten «Bruno-Gröning-Freundeskreis» mit angeblich sechzigtausend Mitgliedern in achtzig Ländern.
Vor ein paar Jahren habe ich einen Film über den «Mythos Bruno Gröning» gedreht und eine unverzeihliche Sünde begangen. Wir fuhren zu einer alten Wirkungsstätte des Wunderheilers, liehen uns echte Gröningkugeln aus dem Museum und waren wohl alle etwas überarbeitet. Bald flogen die unersetzlichen Artefakte als Fußbälle durch die Sommerluft, dann banden wir sie an Nylonfäden und ließen sie wie Ufos ins öffentlich-rechtliche Bild baumeln. Eine klassische Übersprungshandlung. Am Ende besorgten wir uns auf Kosten der Gebührenzahler Alufolie, rollten sie zwischen unseren Handflächen und gaben dem Museum eine gemischte Wundertüte mit Gröning-Kugeln und Gastmann-Kugeln zurück – sie waren einfach nicht mehr zu unterscheiden. Ich hoffe,
Weitere Kostenlose Bücher