Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Rothaarsteig habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Seit Winterberg sticht es in der Fußsohle unter dem großen Zeh. Morgens spüre ich es kaum, doch von Wanderstunde zu Wanderstunde wird es schlimmer. Erst fühlt es sich an, als würde ich auf einer Reißzwecke gehen, dann breitet sich der Schmerz langsam im Vorderfuß aus. Ganz automatisch versuche ich, das Gewicht auf die Hacke zu verlagern, doch diese Fehlhaltung schlägt wiederum auf den Rücken.
Ich ahne Böses. Wenn ich Pech habe, endet das Abenteuer meines Lebens schon hier in der Villa Oriental. Vor der Reise ließ ich mich von einem befreundeten Leistungsdiagnostiker untersuchen. Helge stellte mich mit Atemmaske und EKG auf ein Laufband, und nach fünf Minuten dachte er, der Pulsmesser wäre kaputt. Ich war schon bei hundertsiebzig. Damals zweifelte er stark an meinem Gang nach Canossa, nicht nur wegen der Kondition. «Spätestens in Osnabrück hast du einen Ermüdungsbruch!», sagte er, und offenbar erwischt es mich jetzt in Hessen.
In meiner Not besuche ich die Sprechstunde bei Herrn Dr. Google, so wie es die meisten Hypochonder heutzutage tun. Der digitale Medicus bestätigt meine Diagnose:
Stressfraktur – Die Beschwerden äußern sich schleichend. Der Patient bemerkt leichte Schmerzen, die nur unter Belastung auftreten und im Ruhezustand nicht mehr zu spüren sind. Ermüdungsbrüche entstehen unter einer normalen, sich dafür aber ständig wiederholenden Bewegung sowie durch sehr intensive Anstrengungen. Besonders häufig ist der Mittelfußknochen betroffen.
Na toll. Ich tröste mich damit, dass jede vierte Fehldiagnose angeblich auf das Konto des Internets geht, und möchte den Fuß erst mal eine Weile beobachten. Auf Wartezimmer oder Notaufnahme habe ich keine Lust. Was sollen die Ärzte denn machen, mich krankschreiben? Und so raste ich ein paar Tage in Gotham City.
Wenn man von der Aussichtsplattform des Main Towers auf die Stadt blickt, dann sieht es so aus, als sei ein Ufo im beschaulichen Hessen gelandet. Das ist der Unterschied zwischen Mainhattan und Manhattan. New York reicht bis zum Horizont, aber Frankfurt ist eigentlich ein lauschiger Ort im Grünen. Das knappe Dutzend Wolkenkratzer wirkt im Äppelwoi-Land so deplatziert wie ein Taxi im Autokino. Doch noch etwas anderes scheint nicht ganz von diesem Stern zu sein. Im Park unter der Europäischen Zentralbank erwacht der Frühling. Männer mit Rastalocken sind aus ihren Tipis gekrochen, dösen auf angeschimmelten Cordsofas und genießen etwas benommen die ersten zarten Sonnenstrahlen des Jahres. In der Luft liegt Jimi Hendrix, und im braunen Gras zwischen Zigarettenstummeln und leeren Jägermeisterflaschen sprießen erste Schneeglöckchen. Ein Hauch von Woodstock, Dauercamper-Romantik und Ausnüchterungszelle weht über den Platz.
«Sie betreten den antikapitalistischen Sektor!» – mit dieser DDR-Reminiszenz nimmt das Occupy-Camp seine Gäste in Empfang. Seit dem fünfzehnten Oktober letzten Jahres harren zwanzig, dreißig sogenannte Globalisierungsgegner auf der kleinen Grünfläche am Fuße des Euro-Towers aus. Worauf sie warten? Vielleicht darauf, dass die Banker mit erhobenen Händen aus ihren Büros kommen und rufen: Okay, ihr habt uns überzeugt, wir schaffen den Kapitalismus ab! Vermutlich warteten schon mal mehr. Noch immer friert es über Nacht, und manche der Demonstranten haben ihre Zelte über Euro-Paletten gespannt. Ob ihnen diese kleine Ironie bewusst ist? An einer roten Wäscheleine hängen Spruchbänder, eine bunte Sammlung hübscher, aber krummer Wortspiele: «Euroland ist abgebrannt», «Profitaurus Rex – vom Aussterben bedroht» und «Stell dir vor, es ist Kapitalismus und keiner kauft ein».
Der Zorn richtet sich aber nicht nur gegen Banker und Aktienhändler. Manche protestieren auch gegen die Militärherrschaft in Ägypten, prangern Hühnerbarone und Legebatterien in Niedersachsen an, und am Sonntag um 17.30 Uhr soll der «Dritte-Welt-Haus-Chor» im Camp auftreten. So ist es nun mal – Gutmenschen und Pazifisten kämpfen an allen Fronten. Am Infostand schüttelt ein grauer spindeldürrer Mann die Spendendose, er sammelt Geld für das Ende des Geldsystems. Ein rosafarbenes Schild weist darauf hin, dass die Bettler vor der Oper und auf der gegenüberliegenden Seite des Zeltlagers ausdrücklich nicht zu Occupy gehören.
«Hat sich denn schon was getan?», frage ich.
Der alte Mann grinst, und ich zucke kurz zusammen, als ich die gelben Stümpfe in seinem
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