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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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sich leisten, von seiner Prominenz zu leben. Der nette Herr Müller schreibt Sachbücher und geriert sich als «Anwalt der Anleger». Er sagt, er sympathisiere sogar mit Occupy und den Piraten. Manchmal geht auch sein Temperament mit ihm durch, dann macht er sich in Interviews wie ein Berserker über seine Kollegen an der Börse her. Genauso gerne romantisiert er die guten alten Wall-Street-Zeiten. Allerdings auf seine Weise.
    «Damals, als die Allianz die Dresdner Bank kaufte, standen fünfundzwanzig Aktienhändler vor mir, haben auf mich eingeschrien, und ich rief: Ey, du Arschloch, jetzt halt mal die Fresse! Oder: Du bekommst deine Zehntausend, du Sack! Das war zwar rau, aber ehrlich. Damals hat man sich nicht beschissen, und wenn doch, dann nur einmal. Heute ist der Handel komplett entmenschlicht, und das macht ihn so gefährlich. Die Hegdefonds stellen mittlerweile Physiker und Pokerspieler ein, um irgendwas da rauszuziehen.»
    Ein Radioreporter des Hessischen Rundfunks unterbricht uns, Mr. Dax möge doch bitte ein Statement zum Thema «Hochfrequenzhandel» abgeben. Natürlich lässt sich Müller das nicht entgehen. Er folgt dem Journalisten ins börseninterne Tonstudio, dann bricht ein badischer Vulkan aus. Das alles sei der größte Unfug, der je erfunden wurde, schimpft Dirk of the Dax: «Wir handeln heute in Sub-Nano-Zeiten! Das muss man sich mal vorstellen: In weniger als einer Nano-Sekunde schließt man ein Geschäft ab. Das alles hat mit sozialer Marktwirtschaft gar nichts mehr zu tun. Wenn dabei auch nur ein kleiner Fehler passiert, dann verbrennen wir Millionen!»
    So ein kleiner Fehler, sagt Müller, könne ganz banal sein. Zum Beispiel gebe ein Händler bei der Aktienorder statt der gewünschten Menge «50» aus Versehen, hopplahopp, die Wertpapiernummer «863543» ein.
    «Früher hab ich die Kollegen in so einem Fall angerufen und gefragt: Ist das dein Ernst? Dann wurde das Geschäft natürlich annulliert. Aber Computer stellen keine Fragen. Die führen nur aus. Beim Flash Crash vor zwei Jahren haben wir durch so einen bescheuerten Tippfehler an der New Yorker Börse eine Billion Dollar vernichtet – in nur sechs Minuten!»
    Mir war nicht klar, wie zynisch die globalisierte Wirtschaft tatsächlich sein kann. Ein einziger Tippfehler, ein Wimpernschlag kann die Welt aus den Angeln heben, Krisen und Kriege auslösen. Die einen wetten auf die Pleite von Griechenland, sie machen Gewinn, wenn das Haus ihres Nachbarn abbrennt. Die anderen spekulieren mit Lebensmitteln und verschlimmern den Hunger in Kenia und Äthiopien. Und was macht die Börse? Sie hält bei jedem Geschäft die Hand auf, egal, wie unmoralisch es auch sein mag. Moral ist nur für Arme. Wer Geld hat, kann sich vom Teufel bedienen lassen, sagen die Japaner. Dabei verfolgte die Börse sogar mal einen höheren gesellschaftlichen Zweck: Sie brachte Leute mit Ideen und Leute mit Kapital zusammen. Heute ist sie zu einem Roulettetisch pervertiert. Man setzt die Ersparnisse fremder Menschen und hofft darauf, dass die Kugel auf die richtige Farbe fällt. Das geht so lange, bis nichts mehr geht. Rien ne va plus.
    Der Börsenguru schnauft. Wir sind auf die Empore gestiegen, sehen dem leisen Treiben von oben zu und legen unsere Arme auf das Geländer.
    «Warum springen Sie nicht, Herr Müller?»
    «Weil ich hoffe, dass diese Exzesse irgendwann enden. Bis es so weit ist, stehe ich hier oben und rufe: Freunde, der Kaiser trägt keine Kleider mehr!»
    Jeder Mensch sollte ein Sorgenfenster besitzen, so viel friedlicher wäre unsere Welt. Stattdessen sammeln sich am nächsten Morgen dreitausend Gestalten mit blutroten Fahnen am Hauptbahnhof. Sie sind ganz in Schwarz gehüllt. Schwarze Stiefel, schwarze Jeans, schwarze Kapuzenpullis, schwarze Sonnenbrillen und prall gefüllte schwarze Rucksäcke. Das «emanzipativ-linksradikale Spektrum gegen die Herrschaft des Kapitals» marschiert die Kaiserstraße hinauf, passiert die Drogensüchtigen, die Sexshops, die Spielhöllen, das Pfandhaus und den Greis mit dem Ice-Age-Jeep. «Guuude!», ruft er. Die dunkle Horde taucht in die kalten Schatten der Türme, aus einem Lautsprecherwagen schallt «Arbeit nervt!» von Deichkind, und etwas abseits humple ich in meinen schwarzen Wanderklamotten.
    Bald klatschen Farbbeutel gegen die Europäische Zentralbank, wie Pech bleibt das Schwarz an der gläsernen Fassade kleben. Pflastersteine krachen in die Scheiben der Commerzbank, Flaschen brechen ins Foyer des Steigenberger

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