Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Herzen ist Müller immer noch der Abiturient aus dem Badischen, der in Schulpausen zum Kiosk wetzte, um sich das Handelsblatt zu besorgen oder in der Sparkasse eine «dringende Börsenorder» über zweihundert Mark zu platzieren. Andere tanzten Blues in den muffigen Partykellern ihrer Eltern, Müller entwickelte eine erotische Beziehung zu Geld, Aktien und Optionsscheinen. Na gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. «Also, ich habe eine erotische Beziehung zu meiner Frau», sagt Müller, «und bevor ich eine erotische Beziehung zu Geld eingehe, muss vorher noch einiges passieren.»
Ausgerechnet der Film «Wall Street» hat ihn angefixt. Als er seine Ausbildung bei der Deutschen Bank begann, kaufte er sich von seinem ersten Lehrgeld ein Paar rote Hosenträger. So wie sie Charlie Sheen im Film trug. Heute ist Müller der freundliche, aber streitbare Experte, der den Deutschen die Krise erklärt. Das kann er so einfach, unterhaltsam und provokativ wie kein Zweiter. Gerade eben hat er einen Vortrag an der Rohstoffmesse gehalten. «Aktien, Gold, Griechenland. Der übliche Sabbel», sagt er und schlabbert mit traurigen Augen die letzten Reste grüner Soße aus seiner Schüssel.
Nun beginnt Müllers große Show. Er springt auf die Köchin zu und herzt sie so innig, als sei sie seine Großmutter. Die Dame heiße Gisela, Gisela Paul, und Frau Paul sei ein Frankfurter Original. Sie zaubere nicht nur die beste grüne Soße der Galaxie, sie sei auch eine phantastische Sängerin. Zum Beweis schenkt Müller mir Giselas neue CD, die es bei ihr am Tresen zu kaufen gibt. Titel: «Das Bahnhofsviertel lebt». Track vier ist der «Grie-Soß-Rezept-Song»:
Ja, Grie Soooooß macht gute Laune,
die hält dich fit, bringt dich uff Trapp!
Ja, Grie Soooooß macht gute Laune,
du bist gut druff und net zu knapp.
Ach, ihr Leut, es ist unsächlich,
ich brauch Grie Soooooß und des zwar tächlich.
Ja, Grie Soooooß, des sach ich dir,
es ist mein Lebenselixier.
An einer Säule der hundertfünfzig Jahre alten Frankfurter Wertpapierbörse lehnt ein braungebrannter Spekulant und nippt an seiner Weißweinschorle. Es ist Freitag, der Yuppie freut sich aufs Wochenende und erzählt irgendwas von Golf, Handicaps und «Lakeballs». Seine auffällige Weste war sicher sehr teuer. «Oraaaaaange trägt nur die Müllabfuhr!», grölt Müller, und ich folge der Naturgewalt in das vermeintliche Zentrum des Bösen. Hinter den historischen Mauern schlüpfen wir in gläserne Einzelkabinen, die mich an das Raumschiff Enterprise erinnern. Sie beamen uns direkt aufs Parkett. Und plötzlich ist es gespenstisch still. Nur ein Telefon klingelt entfernt, auf der Empore hustet ein N24-Reporter, und alle zehn Sekunden zischen und zappeln neue Aktienkurse auf den Anzeigetafeln über unseren Köpfen. Das war’s.
«Ich dachte, an der Börse wäre was los – warum schreit denn keiner?»
«Du hast zu viele amerikanische Filme gesehen, mein Lieber. Auf dem Frankfurter Parkett handeln nur noch Computer miteinander, und deswegen kotzen hier auch alle», knurrt Müller und verdrückt sich in sein winziges, fensterloses Büro. Ich humple ihm hinterher.
«Was hast du eigentlich mit deinem Fuß gemacht?», fragt er.
«Ach, das ist eine lange Geschichte.»
Müllers Geschichte ist schnell erzählt. Als er noch Börsenmakler war, saß er für ein Jahrzehnt im Auge des Orkans, direkt unter der Fieberkurve des Deutschen Aktienindex. Das machte den blassen Händler schleichend berühmt. Immer wieder lichtete die Presse ihn zusammen mit dem DAX-Chart ab, denn alleine war den Fotografen die schwarz-weiße Tafel wohl zu langweilig. Müller lernte schnell, welche Bilder die Medien wollten. Bei steigenden Kursen lächelte er vergnügt und streckte den Daumen nach oben. Fiel die Kurve, dann blies er die Backen auf und schmollte. Bei einem Crash blickte er wie ein Priester in den Himmel und schloss die Hände zum Gebet. Irgendwann grüßte Müller von der Titelseite jeder relevanten und irrelevanten Zeitung, entsprach er doch so sehr dem Klischee: Dieser Mann mit den kurzen, gegelten Igelhaaren, einem Telefonhörer am Ohr und einem zweiten in der Hand wurde ein Symbol, ein Prototyp, das Abziehbild des Aktienhändlers. Müller gab der Börse ein Gesicht. Erst sehr spät fragten sich die Journalisten, wen sie da eigentlich immer fotografierten. Eine kanadische Tageszeitung nannte ihn «Dirk of the Dax», und in Deutschland war «Mr. Dax» geboren. Ein Glücksfall.
Heute kann er es
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