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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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Lichterkette, und in den Lokalen funkeln die Augen der Pärchen, die gerade Urlaub machen oder ihren Eltern beim wöchentlichen Pflichtanruf erzählen, sie würden hier studieren. Und ich? Es ist immer dasselbe Spiel: Ich luge vorsichtig über jede Türschwelle, tue so, als würde ich jemanden suchen, mache verlegen kehrt und ziehe weiter. Mich allein an einen Tisch zu setzen und zu warten, bis der Kellner die eine Kerze vor mir anzündet, bringe ich heute einfach nicht fertig.
    Ich habe grundsätzlich kein Problem damit, solo zu frühstücken, schon gar nicht auf meiner Reise. Der Morgen dient im Moment nur der Nahrungsaufnahme. Ich stopfe mich stumpf mit Kohlenhydraten voll und sehe zu, dass ich unbemerkt möglichst viel vom Buffet mitgehen lasse, wenn es denn eins gibt. Das Mittagessen fällt meistens aus. Bei meinem Pensum von fünfundzwanzig bis dreißig Kilometern am Tag habe ich keine Zeit, irgendwo einzukehren – in der Regel sind die Gasthöfe mittags eh geschlossen, das hat sich seit Norddeutschland nicht geändert. Und so sitze ich an Bushaltestellen, auf Supermarktparkplätzen und auf Stromkästen, Pollern oder Baumstümpfen und kaue an Müsliriegeln, Bananen oder erbeuteten Croissants mit Käse.
    Doch abends ist alles anders. In jeder Kultur der Welt ist dies die Zeit, in der wir uns mit den Menschen zusammensetzen, die wir lieben. Wir zünden eine Kerze an, setzen uns darum und erzählen uns die Geschichten des Tages, der Schein der Flamme spiegelt sich in den Pupillen, während das Wachs zerfließt und uns daran erinnert, dass das Leben vergänglich ist. Das Abendessen ist ein Ritual, und es alleine zu sich zu nehmen ist Folter. Wenn ich hier und jetzt ein Restaurant betrete, habe ich sofort das Gefühl, zum Mittelpunkt des Geschehens zu werden. Alles starrt, alles glotzt, alles fragt sich in einer Mischung aus Neugier, Mitleid und Verachtung: Warum, um Himmels willen, isst dieser Junge allein? Der Kellner wird mich entweder vernachlässigen oder bemuttern, was beides genauso schlimm ist. Denn wie ein Mensch, dem das rechte Bein oder der linke Arm fehlt, möchte ich, der heute Abend auf einen Partner verzichten muss, doch nur eins: Normalität. Und während ich auf mein Essen warte, werde ich abwechselnd auf meinem Handy herumtippen, mein Gesicht in der Wanderkarte des nächsten Tages vergraben oder gedankenverloren vor mich hin stieren. Und so finde ich heute Abend für jedes Lokal eine Ausrede: zu aufgedreht, zu betulich, zu voll, zu leer, zu groß, zu klein, zu hip, zu dreckig, zu teuer, zu einladend, zu gut gelaunt, zu romantisch, zu sinnlich, viel zu schön.

    Die junge Frau an der Rezeption des Hotel Kléber kann meine Zimmerschlüssel nicht finden. «Vendredi!», lächelt sie. «Freitag! Freitags fehlen immer welche, c’est la vie!» Sie kramt hektisch durch mehrere Schubladen und zieht aus einer Kiste mit Ersatzschlüsseln die Nummer 502, und in ihrer Überforderung ist sie so charmant und süß, dass ich sie auf der Stelle küssen möchte. Stattdessen steige ich in den engen Aufzug, fahre hinauf, öffne meine Tür, und dahinter endet der Raum auch schon. Fünf mal zwei Meter, weiße Wände, ein kleines Dachfenster, Dusche, WC – die Frau hat mich in einen Schuhkarton gesteckt. Ich übernachte in einer Bienenwabe, in der Einzelzelle des Großstadttouristen.
    Mitten in der Nacht reißt mich ein weißes Telefon aus dem Schlaf, das direkt über meinem Kopf in die Wand geschraubt ist. Eine Männerstimme.
    «Monsieur Gastmann?»
    «Ja?»
    «Hier ist die Rezeption. Sind Sie in Ihrem Zimmer?»
    «Pardon?»
    «Ob Sie in Ihrem Zimmer sind?»
    «Ja, ich bin in meinem Zimmer. Sie rufen auf meinem Zimmertelefon an.»
    «Excusez-moi, aber wie können Sie in Ihrem Zimmer sein, wenn Ihre Zimmerschlüssel noch hier unten sind?»
    Franzosen. Zärtliche Chaoten.

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    Kapitel 11
    Run nach Canossa
    (Im Tunnel)
    S amstag, 6.30 Uhr, der Wecker klingelt, ausgemacht, wieder eingeschlafen, 6.45 Uhr, Wecker klingelt erneut, aufgestanden, Ohrstöpsel rausgezogen, Hunger, Kopfweh, gelähmte Oberschenkel, Stechen im linken Knie, Schmerztablette genommen, Zähne geputzt, geduscht, abgetrocknet, Hacke an der Kabinenwand aufgerissen, Blut abgetupft, Pflaster auf Hacke geklebt, Zahnpasta und Duschgel wasserdicht verpackt, Füße und Beine mit Schmerzöl eingerieben, angezogen, Wanderschuhe geschnürt, 7.05 Uhr, nach unten gegangen, gefrühstückt, Äpfel und Croissants geklaut, wieder nach oben

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