Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
der Talmitte natürlich auch nicht, und auf der befahrenen Schnellstraße daneben sollte ich nur im Notfall laufen – auch wenn ich dort so nett gegrüßt werde. Also was tun? Ich entscheide mich für die Guerilla-Variante und suche nach Schleichwegen zwischen den Dörfern der Ebene. Sie alle sind über Feld, Wald und Wiesen miteinander verbunden, man muss die Pfade nur finden. Dabei helfen Karten, ein Kompass und der gesunde Menschenverstand. Auch ich scheine so etwas zu besitzen und frage mich einfach: Wo liegt die direkteste Verbindung von diesem Dorf ins nächste? Der Mensch ist von Natur aus faul und wählt, wenn möglich, immer den kürzesten Weg.
Apropos Mensch. Diese Spezies begegnet mir nur selten zwischen den bunten Fachwerkhäusern, den Balustraden, Türmchen, Wetterhähnen, den bemalten Fensterläden und den geblümten Daunenbetten, die auf den Simsen auslüften. Egal zu welcher Tageszeit, egal bei welchem Wetter, es ist, als hätte ein Virus alles Leben in den Dörfern ausgelöscht und nur die Hunde verschont. Aber genau die sind ein Problem: Ich scheine mit dem Rucksack, den dunklen Wanderklamotten und meinen klobigen Schuhen irgendwie Gefahr zu signalisieren, und jedes der Biester dreht durch, wenn es mich wittert. Passiere ich ein Grundstück, dann springen die Hunde wie Derwische im Kreis, folgen mir am Zaun entlang, stecken die Schnauze hindurch und hören nicht auf zu kläffen, bis der nächste Wachhund in der Nachbarschaft übernimmt. Manchmal haben ihre Herrchen vergessen, das Gartentor zu schließen, und ich stehe den Schäferhunden, Rottweilern und Dobermännern ohne Schutz gegenüber. Dann richte ich meine Augen auf den Bürgersteig und gehe ruhig und gleichmäßig weiter.
Die archaischen Ortsnamen erinnern mich an Zweiter-Weltkrieg-Dramen: Matzenheim, Urschenheim, Friesenheim, Schwobsheim, Souffelweyersheim. Mein Heim für diese Nacht liegt abgelegen an einer Landstraße hinter Drusenheim und trägt den verheißungsvollen Titel «L’Auberge du Gourmet», die Herberge des Feinschmeckers. Das Konzept des gehobenen Etablissements ist so simpel wie clever: Mein Zimmer ist spottbillig, doch die Restaurantpreise gefährden meine Rente. Ein Dönerladen ist weit und breit nicht in Sicht, ich habe also keine Wahl, und so lege ich meine Unterarme auf eine weiße Tischdecke und blicke fasziniert auf ein blitzendes Bataillon aus silbernen Stich-, Säge- und Schneidwerkzeugen. Die Kellnerin rückt meinen Stuhl heran, reicht mir den Speisezettel aus Büttenpapier sowie die Weinkarte in echtem Leder und entfernt Geschirr und Besteck der Person, die heute mit mir hätte tafeln können, aber niemals erscheinen wird. Dann zündet sie eine elfenbeinfarbene Kerze an, die etwas verloren in der Mitte des Tisches steht.
Ich sehe mich um: In diesem Restaurant dinieren nur Herren. Einzelne Herren an einzelnen Tischen. Vermutlich Vertreter und andere Kaufleute, genau wie ich sitzen sie schweigend da und starren in das kleine bisschen Wärme, das vor ihnen flackert. Ein ganz normales Abendessen in der Herberge des einsamen Gourmets.
Das Menü (original):
Le Cuissot de Lapereau Désossé – Sauce Poivrade sur Compotée d’Endive
(Die ausgebeinte Kaninchenkeule – Pfeffersauce)
Poêlée de StJacques aux Chicons et Jus Epicé
(Die sautierte Jakobsmuschel in GewürzJus)
Les Aiguilettes de Magret de Canard de la Localité au Fois Gras d’Oie Frais poêlé
(Die Entenbrust der Ortschaft mit Gänseleber)
Croustillants de Tete de Porc
Petite Sauce Maraîchère et Jus de Rôti à la Sauge
(Gefüllter gebratenen Schweinkopf)
Les Cuisses de Grenouille Sautées à la Crème d’Aromates
(Die Froschschenckel in Kräutersahne)
Ich zögere, und die Kellnerin macht mir die Wahl noch ein bisschen schwieriger. «Außerdem kann isch Ihnen als Vorspeise noch Folgendes empfehlen: den lauwarmen Wachtelsalat …»
«Hm, nein danke.»
«Die Drachenköpfesuppe …»
«Drachenköpfe? Merci.»
«Vielleischt die Nierschen?»
Hilfe. Ich beende diesen Vortrag, bestelle «La Ballotine de Poussin Rôti aux Légumes Anémone de Pomme de Terre», ein gebratenes Hähnchen, und erschrecke, als ich sehe, was der Chefkoch dem armen Tier angetan hat. Auf meinem warmen, blank polierten Teller liegt ein winziger, viel zu früh verstorbener Broiler. Man hat alle Knochen aus seinem jugendlichen Leib gerissen und ihn mit einer Masse aus Kartoffeln, Rotwein und seinen eigenen geschredderten Innereien gefüllt. Würdelos – aber
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