Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
sie flach aufsetzen, so sparst du Kraft, capito?»
Und so stampfen zwei Greise, die Hände auf den Rücken gelegt, in Zeitlupe einen unbezwingbaren Berg hinauf. Es funktioniert. Nach etwa zwanzig Minuten beruhigt sich mein Puls, der Schweiß trocknet, und ich fühle mich besser. Offenbar war das meine erste Lektion in Dolce Vita. Wir machen immer mal wieder Halt, und Alberto zeigt mir Tierspuren, die mir während meiner gesamten Reise noch nicht aufgefallen sind. Steinböcke, Wildschweine, sogar Wölfe habe er am Mont Cenis schon gesehen, und zu dieser Jahreszeit kämen langsam wieder die Vipern aus ihren Löchern. «Trä dangäreux!», ruft er. «Die sind sehr, sehr gefährlich. Sei vorsichtig!» Inzwischen färben sich die Wolkenschleier in den Gipfeln golden, allmählich geht die Sonne auf.
Auch Heinrich IV. hat am Mont Cenis «ortskundige Eingeborene» gemietet, die, wie der Chronist Lampert von Hersfeld schreibt, «vor seinem Gefolge über das steile Gebirge und die Schneemassen hergehen und den Nachfolgenden die Unebenheiten des Weges glätten sollten». Mein Eingeborener ist Mitte vierzig, seine Familie stammt ursprünglich aus Venedig, lebt aber seit einigen Generationen in Novalesa, auf der italienischen Seite des Mont Cenis. Er ist verheiratet, hat einen zwölfjährigen Sohn und eine Tochter, die neun Jahre alt ist. Trotzdem kann er ohne Kick nicht existieren. Er will mit einem Kumpel alle Viertausender Europas bezwingen, war elfmal auf dem Montblanc und bestieg die 6439 Meter des Illimani in Bolivien ohne Sauerstoffgerät. «Bergsteigerehre!», meint er und erwähnt nebenbei, dass er ein guter Freund von Reinhold Messner sei.
Früher war Alberto bei den Lawinenrettern. Jedes Jahr sterben in den Alpen über hundert Menschen durch Schneewalzen. Wenn jemand verschüttet wurde, flogen er und seine Kollegen mit dem Helikopter ins Hochgebirge und gruben die toten Wanderer, Kletterer und Skifahrer aus. Nur ein einziges Mal konnte er jemanden lebend aus dem Schnee ziehen, erzählt Alberto. Ein kleines Mädchen, ihr Gesicht habe er nie vergessen. Auch er selbst sei schon einmal in eine Schneewalze geraten, habe sich aber mit einem Lawinen-Rucksack retten können. Der funktioniert wie ein Airbag: Im Ernstfall blasen sich zwei große Luftkissen auf und halten den Körper an der Oberfläche.
Die vielen Leichen verfolgten Alberto bis in seine Träume. Vom Todeskampf verkrampfte Körper, die Augen weit aufgerissen, den Mund voller Schnee, Arme und Beine gebrochen, die Schultern ausgerenkt. Irgendwann ertrug er den Anblick nicht mehr und schmiss den Job hin. Nie wieder, schwor er sich, würde er eine Leiche aus dem Eisgrab ziehen. Doch der gütige Herr im Himmel hatte anderes mit ihm vor.
Es war ein himmelblauer Samstag, perfektes Skiwetter, und Alberto sollte eine Helikoptertour mit fünf Touristen führen. Die Gruppe wollte in die Alpen fliegen und dann auf Skiern aus dem Hubschrauber springen. Eine solche Tour ist für einen Bergpiraten keine Arbeit, sondern purer Genuss. Deswegen wollte ein Freund von Alberto den Job unbedingt übernehmen, er bettelte auf Knien und ließ einfach nicht locker. Schließlich willigte Alberto ein, blieb in seinem Sportgeschäft, verkaufte Jacken und Schneeschuhe und machte prächtigen Umsatz.
Irgendwann schrillte das Telefon. Der Heli mit seinem Freund und den fünf Touristen, erfuhr Alberto, war in einen heftigen Schneesturm geraten und abgestürzt. Noch immer tobte das Unwetter, und niemand konnte an der Unglücksstelle landen. Aber Alberto wollte nicht warten. Er ließ sich in der Nähe absetzen, legte den Rest des Wegs auf Skiern zurück und entdeckte das Wrack. Zu spät. Sein Freund und vier andere waren tot. Nur einen der Touristen konnte er lebend aus dem Hubschrauber ziehen und sauste mit ihm ins Tal. Der Mann hatte vierzig Knochenbrüche und lag danach zwei Jahre im Krankenhaus. Aber er überlebte.
Nun beginnt der unglaubliche Teil der Story. Weil ihn sein Gewissen plagte, kehrte Alberto am selben Tag noch einmal zur Absturzstelle zurück. Er schnitt Blöcke aus dem Eis, errichtete ein Iglu und legte die fünf Leichen hinein. Mittlerweile wütete das Unwetter aber so stark, dass er nicht mehr ins Tal fahren konnte. Also harrte er neben den Toten aus und hoffte, dass der Sturm nachlassen und keine Lawine über die Eiskuppel brechen würde. Im Wrack hatte er etwas Brot und eine Flasche Rotwein gefunden. Er versuchte, ruhig zu atmen, sich bloß nicht zu bewegen, keine
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