Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
am Mont Cenis. Ich wähle den heldenhaften Bergsteiger-Abgang und beschließe, in aller Frühe ins Gebirge zu ziehen. Lieber im drei Meter hohen Schnee erfrieren als im Shenandoah River ertrinken. Blattsalat mit Räucherspeck, Sauerkrautsuppe, Schweinelendchen – und zum Nachtisch eine süße Überraschung: Telefoni Bolognesi. «Scusi, scusi», sagt Alberto, er habe «im blauen Eis» festgehangen. Meint er damit vielleicht die Blue Ridge Mountains?
5.30 Uhr, es ist ganz still. Ein weißer Schleier liegt auf den Gipfeln, und über dem Mont Cenis leuchtet ein Halbmond. Ich sitze schon beim Frühstück, als ein altes Wohnmobil über die Country Road von Lanslebourg knattert. Es hält direkt neben meinem polnischen Hotel, und ein Mann mit Pferdeschwanz, Ohrringen und Sonnenbrille steigt aus. Er winkt mir zu. Sein graubrauner Bart ist am Kinn anrasiert, genau wie bei Lemmy, dem Sänger von Motörhead. Der Mann sieht aus, als hätte er gelebt. Ist es John Denver oder ein anderer Cowboy? Nein, ein Pirat: «I am a Mountain Pirate» steht auf seiner Jacke. «Ciao, ciao, ciao, buongiorno!», ruft der alpine Seeräuber. «Jä suiii Alberto!», und setzt sich zu mir an den Tisch. Wie wunderbar. Ich spreche zwar kaum Italienisch und Alberto kaum Englisch. Aber wir beide beherrschen dasselbe französische Kauderwelsch. So können wir uns bestens verständigen.
Signore Bolognesi ist nicht hungrig. Er sagt, er habe gestern bei seiner Familie gut gegessen («J’ä mangäää trä, trä beaucoup!»), klopft sich auf den Bauch und sieht etwas ungläubig dabei zu, wie ich meine tägliche Überdosis Weißbrot, Kaffee und Orangensaft verputze. Schließlich geht es heute über den Giganten, der mir seit Monaten Kopfzerbrechen bereitet. Alberto erzählt, er komme gerade aus dem Berner Oberland und sei dort eine Woche auf den Viertausendern herumgekraxelt. Gestern Abend habe er an einem Kletterwettkampf teilgenommen, und heute Nachmittag wolle er noch auf einen Dreitausender.
«Du machst noch eine zweite Tour?»
Alberto grinst.
«Si, pour-ä-quoi-ä non? Wollen wir los? Andiamo!»
Bolognesi wirft die Lunchpakete mit Sandwiches, Äpfeln und Orangen, die uns die Polen mitgegeben haben, in sein Wohnmobil. «No, no, no», sagt er, «das schwere Zeug will ich nicht mitschleppen. Wir essen später bei meiner Mama. Und was hast du da? Eine Thermoskanne? Willst du mich damit erschlagen?» Ich solle alle nutzlosen und schweren Sachen aus meinem Rucksack nehmen und in den Camper legen. Ein Kumpel werde den Wagen später abholen und auf die andere Seite nach Italien fahren. Dann zieht Bolognesi Spitzhacken, Steigeisen, Karabiner, Helme und Seile aus der Beifahrertür und legt sie mir in die Arme. Mir wird etwas flau, und Alberto grinst. «Hey, nur ein Scherz, keine Sorge!», sagt er, schlägt mir auf die Schulter und legt alles wieder zurück. «Es wird zwar nicht ganz leicht, aber wir schaffen das auch so.»
«Ist der Mont Cenis denn wirklich so gefährlich, wie die Leute sagen?»
«O ja, si si, ich habe viel Respekt vor ihm. Im Winter fallen da oben zwanzig Meter Schnee, da hast du brutalen Wind und ständig Lawinen!»
So müssen es Heinrich IV. und seine Entourage erlebt haben, als sie im Jahrhundertwinter 1077 über das Gebirge zogen. Der Chronist schreibt, die Gipfel «starrten so von ungeheuren Schneemassen und Eis», dass sie trotz der Hilfe ihrer Führer nur «mit größter Schwierigkeit bis auf die Scheitelhöhe des Berges» vordringen konnten. Obwohl die Hitze der vergangenen Murmeltiertage den meisten Schnee am Hang hat tauen lassen, fällt auch mir der Anstieg schwer. Wir wandern über eine steile Skipiste nach oben, und schon nach wenigen Metern kullern mir dicke Tropfen von der Stirn.
«Dou-cä-ment!», ruft Bolognesi. «Willst du den Berg hochrennen? Du läufst viel zu schnell und ganz ohne Rhythmus. Hast du mal gesehen, wie die Alten gehen? Ganz langsam, ganz gleichmäßig, Schritt für Schritt, von Dorf zu Dorf. So schaffen die viele Kilometer. Außerdem gehst du völlig falsch!»
Jetzt beleidigt er mich. Ich erzähle ihm – nicht ohne Stolz –, dass ich immerhin schon fast eintausend Kilometer, von Hamburg bis Lanslebourg, zu Fuß gelaufen bin. Mal abgesehen von der großen Überquerung des Jura-Gebirges und intimen Busfahrten mit Thermoskannen.
Alberto hebt beschwichtigend die Arme: «Bene, dein Gang ist auch nicht schlecht für die Ebene. Aber wenn es nach oben geht, dann darfst du die Füße nicht abrollen. Du musst
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